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Wie du Ihr

Wie du Ihr

Titel: Wie du Ihr
Autoren: Bernard Beckett
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überlegte kurz, ob sie mich umarmen sollte, ließ es dann aber doch. Sie hatte recht. Schließlich kannten wir uns kaum.
    Ich war der Erste, der zu Jonathan kam. Er umarmte mich auch nicht, aber wir zögerten beide, ehe wir uns dagegen entschieden. Draußen in den Bergen hätten wir uns bestimmt umarmt. Und wenn er das vom Krankenhaus gewusst hätte, hätten wir uns vielleicht auch umarmt. Auf dem Weg zu ihm hatte ich beschlossen, ihnen die Sache mit dem Arzt zu erzählen, sobald sie mich danach fragten. Ich musste es unbedingt jemandem erzählen.
    Als die Pizza kam, die Jonathan bestellt hatte, waren die anderen immer noch nicht da.
    »Rebecca kommt bestimmt extra zu spät«, meinte Jonathan. »Damit sie auf keinen Fall mit mir allein ist.«
    »Dann läuft es also nicht so gut?«
    »Nein. Ich hab irgendwas gemacht, was sie genervt hat. Was soll's. Es war sowieso klar, dass es nicht lange halten würde. Das hatte was mit unserer speziellen Situation in den Bergen zu tun. Hier unten ist es anders, weißt du.«
    »Mhm.«
    Jonathan erzählte mir, was ich in meiner Abwesenheit alles verpasst hatte. Von Ms Jenkins' Trauerfeier und dass sie einen Sarg in die Erde gelassen hatten, obwohl die Leiche nie gefunden worden war. (»Sie haben was an der Stelle gefunden, aber sie sagen nicht, was. Du weißt ja, wie die Polizei ist.«) Er erzählte, dass die ganze Schule da gewesen sei und Hunderte von anderen Leuten. Und dass sogar das Fernsehen und die Zeitung darüber berichtet hätten, obwohl es so viele Beerdigungen gegeben hatte. Mr Jenkins hatte eine »echt starke« Rede gehalten, aber er konnte sich nicht mehr so richtig erinnern, was genau er gesagt hatte. (»Hast du ihn kennengelernt? Er geht einem ganz schön unter die Haut, findest du nicht?«) Jonathan erzählte, man habe sie gefragt, ob sie bei der Trauerfeier etwas sagen wollten. Aber Lisa war wegen der Sache mit ihrem Bruder zu traurig gewesen und Jonathan wollte nicht. Und Rebecca wollte nicht als Einzige was sagen. Deswegen hatten sie sich auch in die Haare bekommen. (»Aber ich hab sie ja kaum gekannt. Was hätte ich denn sagen sollen? Da waren all diese Leute, die total fertig waren, und ich wollte mich nicht vor sie hinstellen und ihnen was vorspielen.«) Ich fragte ihn, wie Lisas Bruder ums Leben gekommen sei, aber er wusste es nicht genau. (»Irgend so ein Scheiß mit dem Erdbeben, irgendwas ist eingestürzt.«) Er fing gerade an, danach zu fragen, wie es mir ergangen sei, und ich überlegte schon, wie ich ihn hinhalten konnte, als Rebecca klingelte.
    Rebecca umarmte mich. Gleich als sie reinkam und nur ganz kurz. Als hätte sie den ganzen Weg darüber nachgedacht.
    »Wie geht es dir?«, fragte sie.
    »Ganz gut so weit.«
    »Ich bin so froh, dass du es geschafft hast zu entkommen. Ich meine, ich hatte solche Angst, dass du ... Wir hatten alle Angst um dich. Hat dir Jonathan erzählt, dass wir noch mal zurückgegangen sind, um nach dir zu suchen?«
    »Nein.«
    »Typisch.«
    »Trotzdem danke.«
    »Ist doch klar. Hast du gehört, dass sie die Leiche irgendwo anders versteckt haben? Sie haben sie sogar mit Spürhunden gesucht, aber sie haben sie nirgends gefunden.«
    »Wahrscheinlich haben die Typen sie zerstückelt.«
    »Jonathan!«
    »Im Ernst. Wie hätten sie die Leiche sonst wegbringen sollen? In jeden Rucksack ein kleines Stück und ... Au! Wofür war das denn?«
    »Dafür, dass du so doof bist.«
    »Willst du dir noch ein bisschen Pizza in der Mikrowelle warm machen?«
    »Hast du auch eine vegetarische bestellt?«
    »Hab ich vergessen.«
    »Blödmann.«
    Und dann stritten sie wieder, halb im Ernst und halb im Spaß. Als hätten wir einen Zeitsprung nach hinten gemacht. Als wäre nichts passiert. Als Nächstes tratschten sie über die Schule. Bei jeder anderen Gelegenheit wäre das völlig in Ordnung gewesen, aber nicht jetzt. Ich versuchte, halbherzig mitzureden, und sah immer wieder zur Tür, in der Hoffnung, dass Lisa bald käme. Dann konnte ich es ihnen erzählen. Dann würde alles anders sein. Dann mussten wir aufhören, so zu tun, als wäre nichts.
    Es war schon nach neun, als sie endlich kam. Sie sah ganz anders aus als die Lisa, die ich kannte. Das gleiche Gesicht, die gleichen Haare und die gleichen Kleider, die ich aus der Schule kannte. Aber andere Augen und eine andere Art, mich zu umarmen.
    »Marko«, flüsterte sie. »Ich bin ja so froh.« Aber viel Freude war nicht mehr in ihr übrig.
    »Hör mal. Das mit deinem Bruder tut mir schrecklich
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