Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie du Ihr

Wie du Ihr

Titel: Wie du Ihr
Autoren: Bernard Beckett
Vom Netzwerk:
ich beherrschte mich und ging langsam zu ihr. Ich setzte mich neben sie auf die Bank. Plötzlich merkte ich, dass ich lächelte.
    »Was machst du denn hier?«, fragte sie.
    »Ich hab dich gesucht. Deine Mutter hat mir gesagt, dass du hier bist. Ich hoffe, ich störe dich nicht.«
    »Überhaupt nicht. Ich bin froh, dass du da bist. Mama kommt nicht gerne hierher. Noch nicht. Papa auch nicht. Und Liz ist schon wieder in Auckland. Es ist schön, nicht allein hier zu sein.«
    Sie rückte näher und legte den Kopf auf meine Schulter. Es war fast wieder wie in den Bergen. Ich spürte, wie meine Panik nachließ.
    »Schrecklich, oder?«, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf die fein säuberlich angelegten Gräber.
    »Mhm.«
    »Zu viel kahle Erde. Ich meine, natürlich weiß ich, dass es ein Grab ist. Also müsste es mir eigentlich egal sein. Aber so sieht alles noch so frisch aus. Ich kann es kaum erwarten, bis endlich Gras darübergewachsen ist. Ich habe sogar überlegt, ob ich ein bisschen Rasensamen draufstreuen soll. Meinst du, das ist erlaubt?«
    »Wahrscheinlich weht der Samen sowieso aufs nächste Grab.«
    »Wie die Blumen.« Sie lächelte. »Ich glaube, ich möchte gerne da drüben begraben werden, wo der Wind immer hinweht. Dort liegen bestimmt die meisten Blumen.«
    »Wo ist denn Matthews Grab?«
    »Zweite Reihe, das dritte von rechts. Klingt wie auf einem Klassenfoto, was?«
    »Alles okay mit dir? Ich meine ...«
    »Ja, schon. Das heißt, eigentlich nicht. Ich weiß nicht. Ich glaube, ich weiß gar nicht mehr so genau, wie sich das anfühlt, wenn es einem gut geht. Mir geht's total schlecht. Aber ich will mich gar nicht anders fühlen. Ich will nicht, dass es mir gut geht. Ich will nicht so sein, als wäre nichts passiert. Mama meint, wir sollten zu einem Psychologen gehen und mit ihm über Matthews Tod sprechen, aber ich weiß nicht, ob ich das will. Es wäre, als würde man einen Fremden hereinlassen. Und was ist mit dir? Wir haben gestern Abend ja kaum was geredet. Bitte entschuldige. Wie geht es dir? Geht's dir denn gut?«
    »Geht schon«, log ich. Ich wusste, dass dies der richtige Moment war, alles zu erzählen, aber ich hatte Angst anzufangen. Wenn ich die Worte erst einmal ausgesprochen hatte, gab es kein Zurück mehr. »Das heißt, es geht so. Ich muss dir was erzählen. Etwas, das niemand außer mir weiß. Und das niemand erfahren darf. Du musst mir versprechen, es keinem weiterzuerzählen.«
    »Was denn?«
    »Bitte versprich es mir.«
    »Worum geht's denn?«, fragte sie.
    »Um etwas aus den Bergen. Um den Kerl, der Ms Jenkins umgebracht hat. Es sind gute Neuigkeiten. Du wirst bestimmt sehr froh sein. Aber zuerst musst du mir versprechen, keiner Menschenseele davon zu erzählen.«
    Sie sah mir in die Augen.
    »Na gut.« Sie klang nicht einmal sonderlich interessiert. Sie klang müde. »Ich verspreche es dir.«
    Ich begann langsam. Tastete mich behutsam vorwärts und rechnete jeden Moment damit, dass sie mich unterbrechen würde. Tat sie aber nicht. Also erzählte ich weiter. Irgendwann war ich so in die Erzählung vertieft, dass ich nicht mehr sah, wie die Friedhofsbesucher kamen und gingen und wie der Wind Blumen über die Gräber wehte. Ich erzählte ihr, wie ich gestolpert war und sein Gesicht gesehen hatte. Ich erzählte ihr vom Krankenhaus, den Medikamenten und dass Margaret mich gerettet hatte. Von Andrew, der mich reingelegt hatte, und diesem Buch, in dem ich alles aufgeschrieben habe. Die Worte rauschten nur so aus mir heraus und mit den Worten kamen auch die Gefühle. Plötzlich schien alles wieder viel klarer. Ich war das Opfer. Ich war wütend. Ich war im Recht. Und ich hatte gewonnen: für mich, für Ms Jenkins' Familie, für Lisa und die anderen. Nach allem, was geschehen war, hüllten mich die Worte ein wie eine warme Decke. Die unerträgliche Last auf meiner Seele ließ nach. Endlich würde alles gut werden. Ich wollte Lisa in den Arm nehmen und ihr dafür danken, dass sie mir zugehört hatte. Und ich wollte, dass sie mir sagte, wie gut ich meine Sache gemacht hatte. Es gibt so viele Möglichkeiten, dumm zu sein, und das war meine.
    »Mein Gott, du kannst wirklich froh sein, dass du noch lebst«, sagte sie leise.
    »Ich weiß.«
    »Und das war vorgestern, als du ihn im Krankenhaus zurückgelassen hast?«, fragte sie mit ernster Miene.
    »Ja.«
    »Das heißt, er lebt bestimmt noch.«
    »Aber nicht mehr lange«, sagte ich, ohne zu begreifen, worauf sie hinauswollte. Wir schwiegen beide.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher