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Wie du Ihr

Wie du Ihr

Titel: Wie du Ihr
Autoren: Bernard Beckett
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starrte ihn an. Plötzlich veränderte sich der Ausdruck in seinen Augen. Mit letzter Kraft streckte er den Finger aus und zeigte auf meine Füße.
    Ich sah nach unten und stellte fest, dass sie bereits knöcheltief im Wasser standen. Das Wasser war so dunkel, dass es aussah, als würde ich mich darin auflösen. Dort, wo das Wasser die Wand berührte, löste sich auch die Wand auf. Bald würde ich wie er hilflos im Wasser treiben.
    Ich schrie. Ich öffnete den Mund und brüllte verzweifelt, weil ich wusste, dass ich immer noch träumte und endlich aufwachen wollte. Aber es war kein Laut zu hören. Das Wasser stieg immer höher, bis auch ich im Wasser trieb. Und dann kam das Schlimmste von allem. Ich fühlte nichts mehr. Kein Gewicht, keine Kraft, keine Bewegung. Es war der schlimmste Traum, den ich jemals gehabt hatte. Es gab keinen Fortschritt und kein Ende. Ich steckte in einem unendlichen Moment fest. Manchmal stieß ich gegen den Arzt, manchmal gegen eines der vielen Fenster, die mich plötzlich umgaben.
    Als ich heute Morgen schließlich aufwachte, war ich völlig am Ende. So eine Nacht möchte ich nie mehr erleben. Kann es sein, dass er mir das antut, während er stirbt? Ich weiß, es ist unmöglich. Aber ich weiß auch, wie leicht es ist, Dinge zu glauben, die gar nicht stimmen. Jetzt bin ich nicht einmal mehr in der Lage, aus meinem Bett aufzustehen, weil ich nicht weiß, wohin ich gehen soll. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
    Ich muss es jemandem erzählen. Ich muss wenigstens einen Teil davon loswerden. Vielleicht gehe ich zu Lisa. Sie hat selbst gesagt, dass ich sie besuchen soll.

21
    27. April
    Jonathan hatte mir gesagt, wo Lisa wohnt. Er hatte mir auch ihre Telefonnummer gegeben, aber ich rief nicht an. Ich wollte nicht riskieren, dass mir jemand sagte, dass es jetzt gerade nicht gehe. Ich hielt es nicht mehr länger zu Hause aus. Ich kannte die Straße, wo sie wohnte. Es war nicht allzu weit weg. Ich fuhr mit dem Rad.
    Es war ein großes, neues Backsteinhaus mit einer langen, geschwungenen Auffahrt und automatischem schmiedeeisernem Tor. Ein Ort, der nicht so aussah, als könnte hier etwas schiefgehen. Ich stellte mein Rad neben der Doppelgarage ab und klingelte. Ich wartete. Es tat gut, aus dem Haus zu kommen, aber ich war trotzdem schrecklich nervös.
    »Ja, hallo?« Das musste ihre Mutter sein. Jung, mit großen Augen. Gut aussehend. Traurig.
    »Hallo. Ähm, ich bin Marko. Ich wollte zu Lisa, wenn das geht.«
    »Marko? Ach ja, natürlich. Marko. Ich war so froh, ich meine, wir waren alle so froh, als wir gehört haben, dass dir nichts passiert ist.«
    »Mhm. Ähm, das mit Matthew tut mir sehr leid.« Mein Glück und ihr Unglück starrten sich einen Moment lang an. »Ist Lisa da?«
    »Nein, sie ist gerade weggegangen. Zum Friedhof.«
    »Makara?«
    »Genau.«
    »Meinen Sie, sie hat was dagegen, wenn ich zu ihr gehe?«
    »Wenn sie was dagegen hat, wird sie es dir sagen.« Ihr Blick fiel auf mein Rad. »Du musst aufpassen, dass du dich nicht verfährst. Sie haben die Straße umgeleitet. Aber die Umleitung ist ausgeschildert. Du musst unten am Bauernhof rechts vorbei.«
    Auf dem Parkplatz standen zwanzig Autos. Auf einem frisch gemähten Hügel auf der linken Seite war der Abschnitt mit den Erdbebenopfern. Unzählige Reihen kleiner Haufen von frisch aufgeschütteter Erde, die alle mit den gleichen provisorischen Holzkreuzen versehen waren. Eine Frau ging mit Blumen an mir vorbei. Als sie meinen verlorenen Gesichtsausdruck sah, lächelte sie verständnisvoll. Einige Besucher saßen auf Bänken, andere standen einfach nur herum und sahen aus wie Statuen auf alten Friedhöfen. Andere ärgerten sich, weil der Wind ihre Blumen auf fremde Gräber wehte. Nur Lisa konnte ich nirgends entdecken. Ich überlegte, ob ich nach dem Namen ihres Bruders – Matthew Heading, elf Jahre – suchen sollte. Aber es schien mir nicht richtig, an diesem traurigen Ort wie ein Tourist herumzulaufen. Genauso wenig wollte ich herumstehen und die Leute anstarren. Ich wollte lieber wieder gehen. Ich spürte, wie aus der pochenden Angst Panik wurde. Ich versuchte, mich zu entspannen, und hoffte, dass die Attacke vorüberginge. Ich sehnte mich so sehr danach, Lisa zu sehen, dass ich mich zurückhalten musste, um nicht laut ihren Namen zu rufen. Dann hörte ich ihre Stimme hinter mir.
    »Marko!«
    Sie saß auf einer Bank auf einer Anhöhe des Friedhofs, von der man die Gräber überblickte. Am liebsten wäre ich zu ihr gerannt, aber
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