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Wie du Ihr

Wie du Ihr

Titel: Wie du Ihr
Autoren: Bernard Beckett
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morgen. Um sieben?«
    »Alles klar. Bis morgen.«
    »Also dann. Tschüss.«
    »Tschüss.«
    »Er war bestimmt erleichtert«, sagte Mum.« Ich legte auf.
    »Ja. Du hast mir gar nicht erzählt, dass Lisas Bruder tot ist.«
    »Ach ja. Das hab ich bei der Aufregung ganz vergessen.«
    »Ich sollte sie anrufen. Zu blöd, dass ich Jonathan nicht nach ihrer Nummer gefragt habe. Du weißt nicht zufällig, wie sie mit Nachnamen heißt?«
    »Leider nicht. In der Zeitung war ein Artikel über euch drin, aber ich glaube, den habe ich nicht mehr.«
    Ich versuchte es noch einmal bei Jonathan, aber es ging keiner mehr dran. Ich fühlte mich kraftlos und leer. Morgen würde es bestimmt besser sein, hoffte ich. Vielleicht würde sich morgen endlich alles wirklich anfühlen.
    »Hör mal. Ich bin total müde. Ich glaub, ich geh ins Bett.«
    »Natürlich. Du musst ja ...« Mum schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. »Mein Gott, dass ich nicht früher daran gedacht habe! Du musst unbedingt zu einem Arzt.«
    »Nein. Mir geht's gut, ehrlich«, versicherte ich ihr. »So schlimm war es nicht. Ich muss nur mal richtig ausschlafen, das ist alles.«
    »Sicher?«
    »Sicher.«
    »Na schön. Hauptsache, du bist wieder da.« Sie drückte mich noch einmal an sich.
    Ich lag stundenlang wach und starrte auf die Schatten an der Decke. Ich versuchte, an den sterbenden Arzt zu denken. Und das Gefühl des Triumphes auszukosten, so wie ich es mir vorher oft ausgemalt hatte. Aber ich fühlte nichts. Ich fühlte mich leer und verraten.
    Am nächsten Morgen kam die Polizei. Ich hatte gerade gefrühstückt und war immer noch müde, weil ich schlecht geschlafen hatte. Mum versuchte, im Hintergrund zu bleiben, aber die Polizisten baten sie, uns allein zu lassen. Sie schienen es kaum abwarten zu können, mit mir zu sprechen. Sie trugen beide Zivilkleidung. Der eine hatte eine Glatze und einen Schnurrbart und zog nicht einmal den Mantel aus. Der andere war jünger und trug einen dunkelblauen Anzug. Er notierte sich alles und lächelte kein einziges Mal.
    Das Gespräch zog sich in die Länge. Sie wollten alles genau wissen und bissen sich an den kleinsten Kleinigkeiten fest. Ich wollte einfach nur, dass sie wieder verschwanden. Es gab hier nichts mehr zu tun. Ihre Arbeit war längst erledigt. Der Glatzkopf sagte ständig: »Du weißt doch, wie wichtig das ist, oder?« Als wäre es möglich, dass ich das noch nicht begriffen hatte. Ich arbeitete mich Einzelheit für Einzelheit vor und war so ehrlich wie möglich, ohne die ganze Wahrheit zu sagen.
    Als das Gespräch schließlich auf den nächtlichen Angriff kam, bei dem ich von den anderen getrennt wurde, stand ihnen die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Wahrscheinlich hatten sie sich diesen Teil bis zuletzt aufgespart, in der Hoffnung, dort die Antworten auf alle ihre Fragen zu finden. Aber es war dunkel gewesen, sagte ich ihnen. Ich hatte Todesangst und war müde und verwirrt. Und nein, ich hatte ihre Gesichter nicht gesehen. Und aufgefallen war mir auch nichts.
    Sie verloren das Interesse. Sie fragten noch ein bisschen weiter. Wohin ich gegangen oder wie ich wieder nach Hause gekommen sei, und ich erzählte meine Lügen noch einmal. Dieses Mal gingen sie mir schon leichter über die Lippen. Aber sie hörten sowieso nicht mehr richtig zu. Der mit dem Anzug hatte aufgehört zu schreiben. Ich glaube nicht, dass sie was gemerkt haben. Wenn der Arzt irgendwann tot aufgefunden wird, werden sie bestimmt keine Verbindung herstellen zwischen einem entflohenen Psychiatriepatienten und einem Jungen, der sich in den Bergen verlaufen hat.
    An diesem Tag kamen noch mehr Besucher. Hauptsächlich Freunde der Familie, aber ich war schrecklich zappelig und konnte mich kaum konzentrieren. Wahrscheinlich war ich ziemlich unhöflich. Doch die meisten lächelten verständnisvoll. Mr Camden kam auch vorbei und brachte mir mein Rad zurück. Er erzählte mir, wie froh alle seien, dass mir nichts passiert sei. Zum Schluss meinte er augenzwinkernd, er sei schon sehr gespannt auf meinen Abschlussbericht über die Exkursion. Er ist ein guter Kerl.
    Dann war da noch ein Zeitungsjournalist mit einem Fotografen im Schlepptau. Aber ich sagte Mum, dass sie die Typen wieder wegschicken solle. Ich bin schließlich nicht dumm. Jonathan rief noch mal an und erklärte mir den Weg zu seinem Haus. Die Zeit bis sieben Uhr erschien mir unendlich lang. Ich sehnte mich so sehr danach, sie zu sehen. Dann würde es mir endlich besser gehen.
    Ich
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