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Wie du Ihr

Wie du Ihr

Titel: Wie du Ihr
Autoren: Bernard Beckett
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habe.
    Ich ging in eine andere Welt hinaus. Plötzlich fielen mir Dinge auf, die ich kaum wahrgenommen hatte, als Andrew mich hierher gebracht hatte. Ich lief durch halb fertige Korridore. Menschenleer und totenstill. Ich kam an einem verbarrikadierten Aufzugschacht vorbei und ging durch einen dunklen Gang mit Stromkabeln, die von der Decke hingen. Ein Kerker am Ende eines verschlungenen Labyrinths. Sogar ein »Zutritt verboten«- Schild an der Stelle, wo der Gang auf das Hauptgebäude stieß. Der Arzt hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Sie hätten mich niemals lebend gefunden. Ihn werden sie auch nicht finden.
    Als ich versuchte, den Ausgang zu finden, sprach mich eine Krankenschwester an.
    »Hier kannst du nicht durchgehen«, sagte sie mit einem Lächeln, das mich an Lisa erinnerte.
    »Entschuldigung«, sagte ich. »Ich glaube, ich hab mich verlaufen.«
    »Wohin willst du denn?«, fragte sie freundlich. Ein normales Gespräch zwischen zwei normalen Menschen. Ich war frei.
    »Zur Cafeteria.«
    »Oh, da bist du wirklich völlig falsch. Du musst da entlang zum Aufzug gehen und dann runter ins Erdgeschoss fahren. Dort folgst du dann den Schildern zum Empfang und von dort ist es dann angeschrieben.«
    »Vielen Dank.«
    »Keine Ursache.« Wieder ein Lächeln. Jemanden zu töten ist einfacher, als man denkt.
    Die Cafeteria war leer. Draußen war es hell. Die Wanduhr zeigte halb zehn. Ich kaufte mir etwas zu essen und zu trinken. Vor allem zu trinken: zwei riesige Flaschen mit Saft. Die Frau an der Kasse lächelte. Wahrscheinlich war ich nicht gerade der bestgekleidete Mensch, den sie jemals gesehen hatte, aber auch nicht der schlechtestgekleidete. Ich ging nach draußen und lief zwei Straßen weiter bis zum nächsten Park. Erst dort setzte ich mich zum Essen auf eine Bank. Die Sonne schien und das grelle Licht blendete mich. Ich aß langsam und bedächtig. Es ging mir viel besser, als ich erwartet hatte. Als ich an den Arzt dachte, lag ein Lächeln auf meinen Lippen.
    Jetzt sitze ich im Bus auf dem Weg nach Hause. Die anderen Fahrgäste wundern sich bestimmt über mein sonderbares Lächeln. Vielleicht halten sie mich für verrückt. Ich habe nicht zu Hause angerufen. Sie wissen nicht, dass ich komme. Ich will sie überraschen. Außerdem kann ich so meine Geschichte mit Mum und Duncan üben. Sie werden mir nicht so viele Fragen stellen. Ich kann es kaum erwarten. Ich schreibe das hier nur auf, damit ich nicht andauernd aus dem Fenster sehe und feststelle, wie unerträglich langsam wir vorankommen. Jetzt sind es nur noch ein paar Kilometer. Sie glauben bestimmt, dass ich tot bin. Das denkt bestimmt jeder. Aber ich lebe und ich bringe eine Geschichte mit, die ich selbst kaum glauben kann.
    Trotzdem werde ich sie nicht erzählen. Nicht sofort. Ich habe es mir genau überlegt. Nur Jonathan, Rebecca und Lisa werden es jemals erfahren. Falls sie noch leben. Aber das tun sie bestimmt. Das spüre ich. Sie sind die einzigen Menschen, die es verstehen werden. Aber nicht sofort. Erst wenn es vorbei ist. Erst wenn ich ganz sicher bin, dass er tot ist. Sonst will sich Rebecca bestimmt einmischen und Jonathan noch mal hingehen, um zu sehen, wie er leidet. Ich muss noch ein bisschen warten. Aber das macht nichts. Daran bin ich mittlerweile gewöhnt. Sie werden überrascht sein, dass ich endlich etwas richtig gemacht habe. Es ist mein Geschenk an sie.
    Das war's. Ab jetzt ist die Straße so holprig, dass man nicht mehr schreiben kann. Ich habe alles gesagt. Ich habe gewonnen. Ich bin endlich wieder zu Hause. Alles wird gut.

20
    26. April
    Wisst ihr noch, wie das war, wenn man sich als Kind tagelang auf Weihnachten gefreut hat? Und dann die große Enttäuschung. Genau so fühlte ich mich, als ich nach Hause kam. Es ist wie an Heiligabend. Dir ist schlecht, weil du dich überfressen hast. Das neue Computerspiel ist längst nicht so gut, wie sie in der Fernsehwerbung gesagt haben. Und alle anderen haben viel bessere Geschenke bekommen als du. Deine Großeltern kommen zu spät und bringen ein Geschenk für jemanden mit, der halb so alt ist wie du. Und du bist so enttäuscht, dass du nicht weißt, was du sagen sollst. Also kannst du nur noch weinen. Dann sagt deine Mutter: »Das war ein aufregender Tag. Du bist bestimmt sehr müde.« Aber das ist es überhaupt nicht. Die Geschenke sind doof, nie ist etwas so schön, wie man es sich vorgestellt hat, und das hast du jetzt davon, dass du dich die ganze Zeit so darauf gefreut hast. Es
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