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Wie du Ihr

Wie du Ihr

Titel: Wie du Ihr
Autoren: Bernard Beckett
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bemerkte es nicht. Und falls doch, war es ihm egal. Mr Camden ist groß und schlank und läuft das ganze Jahr in kurzen Hosen herum, als wollte er damit irgendetwas beweisen. Es sind einfache, praktische Shorts – er ist kein Mensch, der die Dinge unnötig kompliziert. Ich schätze, er ist ungefähr fünfzig. Hoffentlich sehe ich mit fünfzig auch so aus – mit einem Gesicht voller interessanter Falten und mit Augen, die einen immer noch fesseln können. Augen, die mit jedem Bestandteil des Kurses, den er uns vorstellte, noch heller leuchteten: Kajak fahren, Zivilschutz, Erste Hilfe, Wassersport. Dagegen hatte Infinitesimalrechnung keine Chance.
    Bei seiner Präsentation steuerte er zielstrebig auf einen Höhepunkt zu: die alljährliche mehrtägige Exkursion, an der alle Kursteilnehmer teilnahmen. An diesem Punkt wedelte er wie ein Fluglotse mit den Armen und vor lauter Aufregung hatte er in seinen Mundwinkeln Spucke. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder wurde man von Mr Camdens Begeisterung angesteckt oder man fand ihn einfach nur lächerlich. Für mich kam sein Angebot genau zum richtigen Zeitpunkt.
    Damals war ich sechzehn und langweilte mich. Ich hatte das Gefühl, als würden die Jahre einfach über mich hinwegbranden. Ich sehnte mich nach etwas Neuem. Mr Camden und seine bescheuerte Begeisterung kamen wie gerufen. Ich trug mich noch am selben Abend für den Kurs ein.

3
    16. April
    Hier ist mein Platz zum Schreiben. Ich hab ihn gestern zufällig entdeckt. Es war zwar riskant herumzulaufen, aber ich habe es einfach nicht mehr länger im Bett ausgehalten. Mit diesem unerträglichen Gefühl, meine Zeit zu verschwenden und nur darauf zu warten, dass er wiederkommt. Als ich aufstand, hat mir alles wehgetan. Ich muss wirklich schwer verletzt gewesen sein. Viel schwerer, als ich dachte. Wenn ich mich zu weit vorbeuge, habe ich solche Schmerzen im Rücken, dass ich mich kaum noch bewegen kann. Ich spüre bei jedem Atemzug meine Rippen und mein Körper ist mit blauen Flecken übersät, die allmählich verblassen. Von meinem Bett aus sehe ich den Flur und ich habe die anderen Patienten vorbeilatschen sehen. Es gibt viele verschiedene Arten, verrückt auszusehen. Ich habe meine eigene entwickelt. Ich gehe so gebeugt, wie das mit meinem Rücken geht, und taste mich mit winzigen Schritten vorwärts. Mein Mund steht offen, sodass mir die Spucke über die Unterlippe läuft. Bei den Augen muss ich am meisten aufpassen, damit sie mich nicht verraten. Es ist schwer, mit leerem Blick herumzulaufen, anstatt ihn auf irgendetwas zu richten. Zum Glück habe ich herausgefunden, dass sich ein Tränenfilm bildet, wenn man möglichst wenig blinzelt. Das hält die Welt auf Abstand.
    Obwohl es im Moment nicht so aussieht, als würde mich irgendjemand aufmerksam beobachten. Vermutlich ist das nur eine provisorische Station – viele Dinge scheinen hier nur halb fertig zu sein. Die Ärzte und Schwestern wirken zerstreut. Als könnten sie es kaum erwarten, zu wichtigeren Dingen zurückzukehren. Die wenigen Pflegekräfte, die überhaupt hier sind. Manchmal ist es schwer, eine Krankenschwester zu finden, und wenn, dann sind sie immer in Eile und sehen müde aus. Wahrscheinlich ist das im Moment überall so. Wegen des Erdbebens. Das macht die Sache einfacher für mich. Nur vor dem Arzt muss ich mich in Acht nehmen. Soweit ich weiß, kommen die Ärzte immer nur einmal am Tag, meistens abends oder nachts, und machen hastig ihre Runden.
    Also habe ich angefangen herumzulaufen. Es tut so gut, aus diesem Zimmer herauszukommen, dass ich mich beherrschen muss, um nicht zu lächeln. Ich wandere den Flur entlang und drehe eine Runde durch die Station. Am Schwesternzimmer vorbei, dann zu den Toiletten, durch den Aufenthaltsraum, in dem die Besucher sitzen und so tun, als würden sie den durchdringenden Uringestank nicht riechen. Und krampfhaft versuchen, nicht auf den laufenden Fernseher zu starren. Weiter zu den Zimmern, an deren Türen Schildchen mit unseren Namen hängen, falls wir sie vergessen haben. Auf meinem Schild steht »Chris«. Den Namen hat sich irgendein Arzt oder eine Schwester für mich ausgedacht und ich werde mich hüten, ihnen etwas anderes zu sagen. Gar nichts werde ich ihnen sagen. Ich laufe einfach nur den ganzen Tag durch die Gegend und sehe mich um, denn das ist besser, als nichts zu tun.
    Bei meiner dritten Runde kehrte ich nicht zurück. Es war, als wollte ein Teil von mir davonlaufen. Und alles zurücklassen. Eine
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