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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam
Autoren: Rolf Bauerdick
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Hosentasche. Sie setzte sich neben mich auf das Sofa und legte den Gedichtband Eminescus auf ihren Schoß. Ohne das Buch aufzuschlagen, rezitierte sie: »Das Auge hast du mir umdüstert, in Ewigkeit mit trauter Nacht, mit deinem warmen Mund, der flüstert, und mit dem Arme kalter Macht.«
    Sie trank aus der Flasche und rückte an mich heran. Der Rosenduft verflüchtigte sich im scharfen Spiritus ihres Atems. Sie war betrunken. Ich erstarrte innerlich, als mir ihre Finger durch die Haare fuhren.
    »Du fürchtest dich, Junge?« »Nein«, hauchte ich.
    Erschrocken über den verbotenen Versuch einer Annäherung zog sie ihre Hand zurück und strich ihr Kleid glatt. So wie sie es immer tat, wenn sie sich im Unterricht auf ihr Pult setzte und vom Paris des Ostens erzählte. Ich schnellte hoch.
    »Verzeih mir, Pavel, bitte. Es tut mir leid«, flehte sie. Ich stand bereits im Flur und stieg in meine Schuhe. »Pavel, die Dinge sind anders, als sie uns erscheinen. Und glaub mir, die Menschen sind es auch.«
    Doch ich eilte bereits die Dorfstraße hoch, stolperte über meine Schnürsenkel, stürzte, raffte mich auf und rannte.
    Am nächsten Morgen in der Schule war alles wie immer.
    Hymne, blaues Kleid, Prozentzahlen und Parteigedichte. Die nächsten Wochen, in denen der Winter näher rückte, verliefen in derselben Monotonie, nur dass ich jede Mitarbeit im Unterricht verweigerte. Die Barbu ließ mich gewähren und vermied ihrerseits, mich anzusprechen. Bis zu jenem Tag im November, der damit begann, dass mein Großvater Ilja und sein Freund Dimitru versuchten, mit einem Blechtrichter das Piepen des Sputnik einzufangen.
    »Pavel, Zuika! Pavel, eine Kanne Silvaner! Pavel, mein Glas hat ein Loch! « Die Gäste würden nach mir rufen. Und ich würde flitzen. So wie jedes Jahr an Iljas Geburtstag am 6. November. Nach der Schule würde ich Kisten mit Gemüse, Eimer mit Zuckersirup und schwere Kartoffelsäcke beiseiteschieben, Registrierkasse, Dezimalwaage und Gewichteisen von der Ladentheke räumen und Holztische und Weidenstühle aus dem Lager heranschleppen. Wenn der Wein und die Flaschen mit dem Obstbrand auf dem Tresen standen, würden alle eintrudeln. Kaum ein Mann aus Baia Luna ließ es sich entgehen, dem Kaufmann und Schankwirt Ilja Botev an seinem Ehrentag einen Besuch abzustatten. Der deutschstämmige Schneider Hans verachtete nie einen Pflaumenschnaps, genauso wenig wie seine Landsmänner Hermann Schuster und Karl Koch. Alexandru Kiselev und der gallige Hufschmied Simenov würden auf ein mehr oder weniger langes Stündchen vorbeischauen. Der Ungar Istvan Kallay würde zur Nachtzeit sturztrunken heim zu seiner Frau torkeln und Trojan Petrov wohl erstmals seinen siebzehnjährigen Sohn Petre in den Kreis der Erwachsenen mitbringen. Natürlich würden sich auch die hitzköpfigen Brancusis blicken lassen. Und der Zigan Dimitru sowieso. Nur, ob der vergreiste Pfarrer Johannes Baptiste mit seinen fast neunzig Jahren auch in diesem Jahr den Weg in unser Wirtshaus finden würde, das war ungewiss.
    Es wird ein langer Tag, ging es mir durch den Kopf, als ich Großvater morgens die Zigarrenkiste mit dem roten Geschenkpapier überreichte. Während Opa seine Kubanische genoss, fiel mein Blick auf die Uhr. Ich musste zur Schule. »Du hast noch nichts gegessen! «, rief mir meine Mutter nach, als ich lustlos den Tornister über die Schulter warf und das Haus verließ. Ich wünschte, die Stunden auf der harten Holzbank wären schon verstrichen, zog sich die achte und letzte Klasse doch schleppend zäh in die Länge. Noch ein langer Winter, dann bis zum Frühjahr, und für mich wäre die öde Schulzeit endlich abgesessen. Als ich am Morgen des 6. November 1957 die Dorfstraße hinunterschlenderte, ahnte ich nicht, dass mit dem Schrillen der Glocke mein letzter Schultag begann.
    Angela Barbulescu erschien pünktlich um acht. Sie war wie verwandelt. Sie stierte nicht aus trüben Augen, ihr Blick war offen und klar. Genau so wie ich sie heimlich beobachtet hatte, als sie in der Herrgottsfrüh an ihrem Küchentisch saß und schrieb. Unter ihrem Arm klemmte ein graues Paket. Ich wusste bereits, was darin steckte, aber ich wusste noch nicht, dass sein Inhalt mein Leben aus der Bahn schleudern sollte.
    Tags zuvor war ein Bote in Baia Luna aufgetaucht, in strömendem Regen. Er hatte unser Ladenlokal betreten, sich als Kurier der Bezirksregierung ausgewiesen und nach der Lehrperson Barbulescu gefragt. Großvater entbot dem Mann einen Regenschirm. Er
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