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Wie deutsch ist das denn?!

Wie deutsch ist das denn?!

Titel: Wie deutsch ist das denn?!
Autoren: Jürgen Ahrens
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Vorbemerkung
    Wer sind wir, und wenn nein, was dann?
    Sehr deutsch ist es anscheinend, eine solche Frage überhaupt zu stellen. Denn was Nabelschau und Identitätssuche betrifft, sind wir als Nation offensichtlich unschlagbar: Sucht man das Wortpaar » typisch deutsch « (mit sämtlichen Deklinationsendungen) im Internet, so erhält man mehr als 1,13 Millionen [1] Treffer– einsamer Weltrekord. Weit abgeschlagen folgen die Franzosen mit 207 200 Treffern für » typiquement français/e/s « , und ausgerechnet die Weltmacht USA bringt es nur auf einen kümmerlichen dritten Platz: 168 000 Mal » typically American « , das ist angesichts von 316 Millionen stolzen US-Bürgern verblüffend wenig.
    Was aber treibt uns dazu, mit solcher Inbrunst dem » Typischen « unseres Volkscharakters oder unserer Kultur nachzuspüren? Ist es die uns nachgesagte Gründlichkeit, die auch im eigenen Selbstverständnis keine weißen Flecken des Nichtwissens duldet? Oder verrät diese unermüdliche Selbstbespiegelung einfach die innere Unsicherheit einer Nation, die sich als solche noch immer nicht ganz gefunden hat?
    Wie auch immer, die deutsche Identität scheint ein vertracktes Thema zu sein. Jeder Versuch, sie einzukreisen und festzunageln, erinnert an den berühmten Vergleich mit Wand und Wackelpudding. Schon die sattsam bekannten Klischees, die andere uns andichten oder wir uns selber aufkleben, ergeben ein reichlich diffuses Bild: Weltschmerz, Romantik, Großspurigkeit, Ordnungsliebe, Gründlichkeit, Fleiß, Vereinsmeierei, Erfindergeist– und mit Sicherheit lassen sich zu jeder Eigenschaft genügend Deutsche finden, die das genaue Gegenteil verkörpern. Selbst die vermeintlich exklusiv deutsche Modetorheit, im Sommer Sandalen mit Socken zu tragen, soll es nach neuesten Erkenntnissen schon bei den alten Römern gegeben haben.
    Das Wochenmagazin Stern [2] nannte das Wirtschaftswunder der Jahre 2010/11 » irgendwie sehr deutsch « . Wie, was, irgendwie? Beim Verständnis helfen könnte eine Studie der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), für die im Jahr 2006 rund 12 000 Bürger in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Österreich, Polen, Russland, Tschechien und der Türkei befragt wurden. Wichtigste Erkenntnisse: Im europäischen Ausland hält man die Deutschen vor allem für gut organisiert, akkurat und leicht pedantisch.
    Klar, keine Frage, das ist der Stoff, aus dem Wirtschaftswunder sind. Aber dass uns Pedanterie unterstellt wird, wenn auch nur leichte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie – haben wir doch ausgerechnet diesen Begriff aus Frankreich importiert!
    Interessant ist auch, dass die Deutschen über sich selbst offenbar strenger urteilen als ihre Nachbarn: Auf die Frage » Was ist deutsch? « antworten rund sieben Prozent der Bundesbürger, die Deutschen seien pessimistisch und jammerten viel. Diese Auffassung teilt man in anderen Ländern Europas so gut wie gar nicht.
    Leicht nachweisen lässt sich, dass es in Deutschland die meisten Baumärkte gibt; das spricht für Fleiß und Tüchtigkeit– allerdings ist die » Do-it-yourself « -Welle in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts in England entstanden und erst später zu uns herübergeschwappt. Belegt ist auch das komplizierteste Steuerrecht der Welt, was aber wiederum keine weiteren Rückschlüsse erlaubt: Bei der Gesamtzahl an Gesetzen und Vorschriften sind wir geradezu Waisenknaben im Vergleich zum europäischen Spitzenreiter Italien.
    Man sieht: Klischees und Stereotypen taugen wenig bis gar nichts zur Definition des » typisch Deutschen « . Aber brauchen wir das überhaupt– eine deutsche Identität, womöglich gar eine » deutsche Seele « ? Ist es nicht viel spannender, inspirierender und letztlich befriedigender, in einem Land zu leben, das seine Vitalität gerade aus seinem Facettenreichtum und seinen immer wieder überraschenden Seiten gewinnt? Und fallen volksunabhängige politische Errungenschaften wie Demokratie, Sozialstaat, Presse- und Meinungsfreiheit nicht mehr ins Gewicht als ein Nationalcharakter, den man auf dem globalen Jahrmarkt der Eitel- oder Befindlichkeiten spazieren tragen kann?
    Will man den schwarz-rot-goldenen Wackelpudding also partout an die Wand nageln, dann könnte des Rätsels Lösung lauten: Typisch deutsch ist, dass wir gar nicht » typisch « sind, sondern etwas von allem an uns haben. So gesehen, verkörpert der Deutsche im Grunde den Idealtyp des Weltbürgers–
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