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Wer Schuld War

Titel: Wer Schuld War
Autoren: Christa Bernuth
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ein Kind fehlt, dass sie ein Kind vergessen
     haben. Was natürlich eine Halluzination ist, denn es gibt ja nur Sophie in ihrem Leben, sonst niemanden. Niemanden
mehr
jedenfalls, und das, weil einer rachsüchtigen Gottheit es gefallen hat, Verena mit einer Frühgeburt wofür auch immer zu bestrafen.
     Deshalb ist ein Bündel mit ganz kleinen, fragilen Gliedmaßen zur Welt gekommen und durch einen Herzfehler zum Tode verurteilt
     worden, eine winzige, riesige Katastrophe, mit der weder er noch Verena fertig geworden sind. Wieso auch. Es lag kein wie
     auch immer gearteter Sinn darin, und so blieb einem nur übrig, alles zu vergessen, so zu tun, als sei es nie geschehen. Das
     ist eben seine Methode gewesen, die Verena natürlich nicht verstanden hat, und ihm daraufhinvorgeworfen hat, keine Hilfe zu sein, ihren Kummer nicht zu teilen, kein Verständnis für ihre Gefühle zu haben. Genau dasselbe
     traf aber auch auf sie zu, auch sie hat
seinen
Schmerz nicht gesehen, auch sie hat
seine
Gefühle immer falsch verstanden, nur hat er ihr das seltsamerweise nie gesagt, und irgendwann war es zu spät, haben sie schließlich
     überhaupt nicht mehr darüber geredet, musste er allein damit umgehen und sie auch.
    Jeder für sich.
    Vielleicht ist er nicht gemacht für Kinder.
    Vielleicht ist es sein Karma, dass er sie verliert.
    Warum kann ich ihn nicht sehen?
    Du kannst ihn sehen, jederzeit, das weißt du doch.
    Ja, als Onkel Alex.
    Er wird es erfahren. Später, wenn er es verkraftet.
    Später, später. Wann soll das denn sein?
    Hab doch Geduld.
    Nein. Das ist einfach ungerecht.
    Du warst damals dreiundzwanzig und abhängig. Du wolltest nichts von ihm wissen. Du wolltest nicht einmal in der Geburtsurkunde
     stehen. Weißt du noch?
    Aber jetzt ist alles anders.
    Ja, jetzt hast du die eine Sucht durch eine andere eingetauscht. Wie du es immer gemacht hast. Erst Heroin, dann Karriere,
     dann Esoterik. Du lebst immer in irgendeinem Wahn.
     
    Nachdem er sich wieder halbwegs beruhigt hat, ruft er bei Juliane in der Kanzlei an, und wie es an solchen Tagen eben ist,
     hat er auch diesmal Pech, weil sich Juliane, wie ihm von einer maulfaulen Praktikantin erst auf mehrfaches Nachfragen mitgeteilt
     wird, in der Mittagspause befindet und frühestens ab vierzehn Uhr wieder erreichbar sein wird.
    Er verlässt Türen schlagend die Wohnung und läuft ziellos durch die Stadt, bis er den Englischen Garten erreicht, wo das entnervende
     Geräusch anfahrender, bremsender, hupender Autos von einem gleichmäßigen Brummen aus angenehmer Entfernung abgelöst wird,
     und er endlich wieder sehen und spüren kann, dass die Sonne scheint und ein sanfter Wind Bongo-Rhythmen über die saftig grünen
     Wiesen weht, eine seltsam verzauberte Atmosphäre verbreitend. Zum ersten Mal seit sehr vielen Jahren bekommt Alex wieder Lust
     auf einen Druck, auf das Glücksgefühl, das nur
Die Droge
vermitteln kann, weil nur
Die Droge
keine Leistung welcher Art auch immer verlangt, man sich lediglich hineinfallen lassen muss, wie in die zarteste Daunenwäsche
     der Welt.
    Und schon kommt ihm, wie eine Fleisch gewordene Warnung vor seiner Vergangenheit, ein Junge auf dem gekiesten Weg entgegen,
     jung wie er damals, mit verschmutzten Rastalocken und fleckigen Jeans. Sein dickes Schuhwerk zieren Dreckspritzer und seinem
     geröteten, leicht verquollenen Gesicht ist anzusehen, dass er sich ein paar Tage lang nicht gewaschen hat, und genauso riecht
     er auch. Alex wendet den Blick ab, aber es ist schon zu spät, es ist immer zu spät, Jungs wie diesem entkommt man nicht so
     einfach, sie haben keinen Stolz mehr und keine Würde, und Alex heftet ergeben den Blick auf das verwüstete Gesicht, kann die
     Frage schon buchstabieren, bevor sie überhaupt gestellt worden war:
    »Hassu fünf   …«
    »Nicht für dich.«
    »Scheißkerl.« Das Schimpfwort ist kaum zu verstehen, die Stimme klingt heiser und rau, viel zu tief und kaputt für jemanden
     in seinem Alter. Alex weicht dem Jungen aus, einer Seele, die er nicht retten kann, während der Junge stehen bleibt und weiterhin
     kaum verständlich hinterihm her flucht. Alex kommt zur Erkenntnis, dass heute ein schlechter Tag ist, definitiv die Sorte von Tagen, die man vor dem
     Einschlafen entschlossen aus dem Gedächtnis streicht, um am nächsten Morgen frisch und rein von Neuem beginnen zu können.
     
    Einige Stunden später geht es ihm besser. Er hat sich in ein sonniges Café gesetzt, ein Eis gegessen, eine Zeitschrift
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