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Wer Schuld War

Titel: Wer Schuld War
Autoren: Christa Bernuth
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Freunden. Jedem der Menschen, die Harry nahestanden, hatte er auf andere Weise etwas
     bedeutet, viele Erinnerungen deckten sich nicht mit denen Marthas, und manchmal hatte sie beinahe das Gefühl, die anderen
     wollten ihr Harry ein zweites Mal wegnehmen.
    Dann kam die lange Phase des allmählichen Vergessens. Man redete nicht mehr über ihn, man dachte nicht mehr an ihn, und so
     hatte sie ihn nun wieder für sich, aber das war auch nicht besser, denn jetzt war sie endgültig ganz allein mit sich und ihren
     Gedanken an ihn, dort, wo er hartnäckig am Leben blieb, so gegenwärtig wie der Kirschbaumin ihrem Garten. Manchmal herrschsüchtig und streng, manchmal lustig und sanft, lässt er sie bis heute nicht los, hindert
     sie daran, ein neues Leben anzufangen. Natürlich erzählt sie das niemandem, denn sie weiß ja, dass die anderen sie belächeln
     würden, ihr unterstellten, dass sie es ist, die nicht loslässt, weil sie sich von ihrem Leben doch sowieso nichts mehr erwartet,
     alt, schwerhörig und vergesslich, wie sie geworden ist, seitdem Harry sich verabschiedet hat.
    Martha liegt, nachdem sie ihre übliche Semmel mit Butter und selbst eingekochter Weichselmarmelade gegessen hat, im Liegestuhl
     auf dem Balkon. Die Sonne scheint ihr warm aufs Gesicht, und sie döst mit einem neuen, recht blutrünstigen Kriminalroman auf
     dem Schoß dem Nachmittag entgegen.
    Undeutlich und sehr weit weg hört sie das Telefon klingeln. Sie überlegt, es einfach läuten zu lassen, aber sie weiß, dass
     es dann Leute gibt, die sich Sorgen machen, dazu gehört zum Beispiel ihre freundliche liebenswerte Nachbarin, die im Besitz
     von Marthas Schlüssel ist und im Notfall nicht lange fackeln, sondern spätestens nach fünf Minuten nach dem Rechten sehen
     würde.
    Also wälzt sich Martha mühsam aus dem Liegestuhl, tastet sich am Balkongeländer entlang, die Beine schmerzen heute mehr als
     sonst, stößt die Balkontür nach innen auf, und dann spürt sie einen Schlag und einen explodierenden Schmerz am Hinterkopf,
     der sie zu Boden gehen lässt. Sie weiß sofort, was es ist, nämlich der Stein in Form eines Büffelkopfes, den Harry vor vielen
     Jahren gefunden hat, weshalb er, der leidenschaftliche Bastler, zwei Hörner aus dunklem Ahornholz geschnitzt, sie an die Stirn
     des Büffelkopfs geklebt und dann sein Objekt, wie er es zu nennen pflegte, an der Wand über der Balkontür angebracht hat.
    Und dort hing es viele Jahre lang.
    Bis heute.
    Während das Telefon weiter klingelt und Martha langsam das Bewusstsein schwindet, denkt sie noch, dass es in Ordnung ist,
     dass Harry sie nun doch endlich holt. Was er will, das holt er sich, früher oder später, und dann sieht sie sich wieder am
     Strand, den Blick auf die glitzernde Wasseroberfläche gerichtet, wo Harry mit dem Gesicht nach unten schwamm. Vielleicht hatte
     es wirklich diese winzige Sekunde gegeben, in der sie sich überlegt hat, ob sie Hilfe holen oder ob sie Harry gehen lassen
     sollte. Er hatte in letzter Zeit immer mehr an Lebensfreude verloren, machte seltsame Andeutungen und klagte vor allem über
     seine zunehmenden Altersbeschwerden. Die ja jeden früher oder später heimsuchten, also was beschwerte er sich eigentlich andauernd,
     aber dann war diese Sekunde vorbei, und sie schrie und weinte und machte den ganzen Strand rebellisch. Und plötzlich standen
     sehr viele Leute um sie herum, vor ihr lag Harry total durchnässt im heißen, staubigen Sand, und sie hätte ihn beinahe nicht
     mehr erkannt, so weit weg war er schon. Und so denkt sie, ein bisschen traurig, ein bisschen triumphierend: Na schön, Harry,
     ich komme, aber benimm dich!
    Und dann schwebt sie in einem diffusen Licht, das sich warm anfühlt und irgendwie rosafarben ist, so ähnlich wie das Plumeau
     im Bett ihrer Großmutter, die Martha sehr geliebt hat und die nun im Himmel – oder was immer das war, worauf Martha zusteuerte
     – auf sie wartet. Jedenfalls hofft Martha das ganz stark, aber noch scheint es nicht so weit zu sein, denn unter ihr sieht
     sie plötzlich eine schmutzig grüne Wiese, die überhaupt nicht himmlisch, sondern höchst irdisch aussieht mit Maulwurfshügeln
     und bräunlichem, platt getretenem Gras. Eine Frau läuft über die Wiese. Und Martha erkennt Barbara, die sehr traurig zu sein
     scheint.
    Martha hingegen hat, was für eine Erleichterung, alle Gefühle hinter sich gelassen, also auch die Angst um Manuel, die Sorgen
     um ihre eigene Gesundheit, die Einsamkeit jede
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