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Wer nichts hat, kann alles geben

Wer nichts hat, kann alles geben

Titel: Wer nichts hat, kann alles geben
Autoren: Karl Rabeder
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»Määäää«. Steht dort ein Geißbock, ein Riesentier mit ein Meter langen Hörnern,
wunderschön geformt. Aber er klingt eher wie ein Kitz, eine kräftige Stimme hat er nicht. Ich denke mir: »Ein sehr kommunikativer Herr, mit dem unterhältst du dich jetzt a bisserl.« Relativ schnell schließen wir Freundschaft. Er ist der stille Herr des Hauses, zu seinem Hofstaat gehören sieben Ziegen und zwei Schafe. Und er liebt es, wenn man mit ihm spielt. Ihn an seinen Hörnern zu packen, ist unglaublich. Das Tier hat eine unfassbare Kraft im Hals. Seitdem begrüßt er mich jedes Mal, wenn ich dort ankomme, er kommt zum Zaun und hält mir seine Hörner zum Spielen hin.
    Und wenn ich dann in meinem neuen Zuhause sitze, weiß ich, dass ich wirklich am schönsten Ende der Welt angekommen bin. Man hört nichts außer dem Rauschen des Baches, den Wind in den Blättern und spürt die unendliche Energie der Natur.
    Ein paarmal bin ich von hier aus schon nachts in die Dunkelheit gewandert und habe gemerkt: Das ist genau so, wie ich jetzt leben möchte. Ich hätte das in Telfs schon so machen können, aber dort hätte es einfach nicht gepasst. Ich wäre gar nicht erst auf die Idee gekommen, im Stockdunklen das Haus zu verlassen, um spazieren zu gehen. Es hat sich offensichtlich einiges geändert in meinem Leben. Ich habe begriffen, dass man nichts besitzen und nicht viel tun muss, um ein glückliches Leben zu führen. Es reicht, wenn man nur eines tut: nämlich SEIN.

Epilog
    W enn ich auf der Terrasse meines neuen Zuhauses sitze, geht mir immer wieder das Herz über: Direkt vor mir breiten sich die Almwiesen aus, einen guten Kilometer entfernt ragt ein Kirchturm in die Höhe, überstrahlt wird all das vom Bergpanorama des Rofangebirges. Diese selbst gewählte Einsamkeit ist schlicht überwältigend, auch weil der Kirchturm gewissermaßen eine Verbindung zum Rest der Menschheit herstellt. Er ist ein Symbol dafür, dass ich in meiner Abgeschiedenheit nur so lange ganz für mich allein zu sein brauche, wie ich es möchte. In dieser Hütte bin ich am Ende eines Weges angekommen, zugleich ist sie aber auch der Startpunkt eines neuen. Wohin der mich führen wird? Ich habe keine Ahnung.
    Ich bin selbst gespannt, welche Erfahrungen ich auf diesem neuen Weg machen werde. Echte Kompetenz habe ich ja vor allem darin zu beschreiben, welcher Weg nicht zum Glück führt: der nämlich, den ich so lange beschritten habe und der mich so unzufrieden hat werden lassen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es auch in meinem neuen Leben Momente geben wird,
in denen ich den Komfort des alten Lebens zu schätzen wüsste. Etwa, wenn es in Strömen regnet, ich durch das sumpfige Gras zu meiner Hütte stapfe und mich durchnässt in die Kälte setze. Ich ahne aber schon jetzt, dass das meiner grundsätzlichen Zufriedenheit nichts wird anhaben können. Früher habe ich ein unglückliches Leben geführt, das gelegentlich von glücklichen Momenten unterbrochen wurde. Nun führe ich ein glückliches Leben, in dem ich hin und wieder beschwerliche Momente hinnehmen muss. So herum ist es mir deutlich lieber.
    Im Herbst 2010, nachdem die Hausverlosung abgeschlossen war, habe ich mich für einige Wochen nach Italien verzogen, um auf dem Franziskusweg zu wandern. Der führt durch die Toskana und Umbrien und endet irgendwann in Poggio Bustone – einem Ort, über dem ich als Segelflieger oft meine Kreise gezogen hatte. Nun eröffnete sich mir die Gelegenheit, diese Gegend auch auf Höhe der Grasnarbe zu erkunden. Es ist eine der unbekannteren Pilgerstrecken und deshalb nicht so überlaufen wie etwa der Jakobsweg in Spanien. Man streift viele Stationen des heiligen Franziskus, Assisi genauso wie verschlafene Dörfer, die mit ihren trutzigen Kirchen aussehen, als wäre die Zeit stehengeblieben.
    Beinahe jeden Tag war ich auf den Beinen, habe unter freiem Himmel oder bei einem Einsiedlermönch geschlafen und diese Zeit zur inneren Einkehr genutzt. In diesen drei Wochen wurde mir klar, was hinter der Redewendung »Der Weg ist das Ziel« steckt. Es geht
bei einer solchen Wanderung nicht darum, irgendwo anzukommen, sondern darum, unterwegs zu sein und jeden Moment in sich aufzusaugen. Die mittelitalienische Landschaft, Ausblicke über die weiten Täler bis zum Horizont, die schroffe Freundlichkeit der Menschen.
    Mit meinem Leben verhält es sich im Grunde genauso. Mein Weg zu mir selbst war ein sehr langer Prozess, der damit begann, dass ich spürte: Dies und jenes führt
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