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Wer nichts hat, kann alles geben

Wer nichts hat, kann alles geben

Titel: Wer nichts hat, kann alles geben
Autoren: Karl Rabeder
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den ich mich in der Silvesternacht 2009 zurückgezogen hatte, vorbei an einsamen Skipisten und stillstehenden Liften. Ich wollte im Moment des Jahreswechsels ganz für mich allein sein, als mich eine Kurznachricht erreichte: »Ich wünsche dir, dass du mit deinen Projekten die Herzen und Seelen vieler Menschen zum Strahlen bringst. Alles Gute im neuen Jahr, Chiara.« Im Gegensatz zu ihr hatte ich ihr so viele Hinweise auf meine Identität gegeben, dass sie mich in den Zeitungsartikeln wiedererkannte, die rund um die Verlosung des Hauses und den Start von MyMicroCredit erschienen waren.
    So stand ich da oben in der Kälte, das Feuerwerk unter mir, der klare Himmel über mir, und dachte darüber nach, wie ich darauf am besten reagieren konnte. Weil ich das persönliche Gespräch jeder Art von elektronischer Kommunikation vorziehe, drückte ich kurzentschlossen die grüne Taste und rief sie an. Damit hatte sie scheinbar nicht gerechnet.
    Eigentlich hatte sie kein Interesse daran, den Kontakt mit mir wiederaufzunehmen. Doch innerhalb weniger Minuten hatte sich die altbekannte Vertrautheit zwischen uns eingestellt, und wir beschlossen, das Treffen nachzuholen, das seit sieben Jahren offenstand. Sie wusste aus den Zeitungen, wie ich aussehe, und sagte zu mir: »Keine Sorge, auch du wirst mich erkennen. « Sie beschrieb mir ein paar markante Details ihres Äußeren.

    Eine Woche später trafen wir uns am Flughafen von Innsbruck – wo sonst sollten sich zwei Vögel treffen? Ich wartete einige Minuten am vereinbarten Treffpunkt, als in letzter Sekunde eine Frau aus dem Parkhaus kam und auf mich zurannte. Von diesem Augenblick an war ich hin und weg von ihr. Ich mochte ihre Art, sich zu bewegen, sie hat etwas Pantherartiges. Ich mochte, wie sie lachte und wie sie sprach. Vor allem aber mochte ich die wundervolle Energie, die sie ausstrahlte. Wir begegneten uns seelisch auf eine so intensive Weise, dass ich das Gefühl hatte, ich würde sie seit Ewigkeiten kennen. Ich verstand sie auf eine ganz natürliche Weise, egal ob sie verbal oder nonverbal kommunizierte. So etwas war für mich bis dahin unvorstellbar gewesen.
    Es folgten unendlich innige neunzehneinhalb Wochen. Mit ihr erlebte ich eine Intensität an Gefühlen und Empfindungen wie mit keinem Menschen zuvor, es war gewissermaßen eine Seelenverwandtschaft ersten Grades. Doch sie wurde abrupt aufgekündigt. Ganz unvermittelt brach sie den Kontakt zu mir ab, weil sie, wie sie sagte, ihren Lebensweg allein gehen müsse. Ich spürte, dass, so sehr es mich auch schmerzte, dies für sie der richtige Weg war. Also ließ ich sie ziehen, wenn auch unter großen Schmerzen.
    Durch sie lernte ich unter anderem, einen Menschen so anzunehmen, wie er ist, auch wenn er in manchen Punkten ganz anders tickt als ich. Dass ein anderer etwas tut, was mich verletzt, und ich ihm trotzdem nicht böse sein kann, nein, ich ihn sogar schätze und
liebe, das war für mich früher ausgeschlossen. Doch jetzt verstand ich zum ersten Mal, dass jemand in einer solchen Situation nicht in der Absicht handelt, mich zu verletzen, sondern, weil er einfach keine andere Wahl hat oder keine Alternative sieht.
    Nachdem sie aus meinem Leben verschwand, waren wir nur ganz selten per E-Mail in Kontakt. Einmal wollte sie wissen, warum ich mit dem Gleitschirmfliegen begonnen hatte. Und ich antwortete ihr:
     
    »Vor knapp fünfzehn Jahren hab ich in Neuseeland einen Gleitschirm-Tandemflug gemacht und dabei vieles sehr genossen: die Stille, das Spüren der Luft auf meiner Haut, auch ihrer Temperaturunterschiede, das Riechen des Bodens, des Waldes, die Langsamkeit der Bewegung, dass ich jede Luftbewegung in den Bäumen und im hohen Gras sehen konnte. Und noch vieles mehr.
    Eines hat mir allerdings gefehlt zur überschäumenden Begeisterung, das war das Gefühl des Fliegens wie ein Vogel, der auf seinen Schwingen durch die Lüfte zieht. Ich hatte die Vermutung, dass dies damit zusammenhängt, dass es eben doch eine Art Fallschirm ist. So habe ich mir vorgenommen, später einmal mit dem Gleitschirmfliegen anzufangen, und es immer wieder wegen irgendwelcher segelfliegerischer Aktivitäten verschoben.
    Viele Jahre später lernte ich eine wundervolle, faszinierende und hochsensible Frau mit strahlenden Augen kennen. Immer wenn sie vom Gleitschirmfliegen erzählte, leuchteten ihre Augen noch viel mehr. Sie er- 217
zählte von dem Gefühl des Fliegens wie eine Dohle, von dem Gefühl, eigene Flügel zu haben. Und weil ich
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