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Wer ist eigentlich Paul?

Wer ist eigentlich Paul?

Titel: Wer ist eigentlich Paul?
Autoren: Anette Göttlicher
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niemanden gibt, der Dinge einfach stillschweigend aufräumt oder beseitigt. Trotzdem hoffe ich bei jedem Öffnen des Kühlschranks auf ein Wunder. Die Tupperdose könnte einfach weg sein, und ich würde sie sauber ausgespült in meinem Schrank wiederfinden. Wie wär’s denn mal mit so einem kleinen Alltagswunder, hm? Na ja. Erfahrungsgemäß werde ich so lange warten, bis der Schokokuchen oder das, was aus ihm geworden ist, von selbst seinen Weg in die Freiheit, sprich, aus der Tupperdose und in die freie Wildbahn meines Kühlschranks, einschlägt. Bevor er sich über meinen geliebten Mövenpick-Karamelljoghurt mit 20   Prozent Fett hermacht, werde ich die Luft anhalten und mich überwinden. Aber momentan verhält sich der Tupperdoseninhalt noch ruhig. Ich kann das auch morgen erledigen. Auf den einen Tag kommt’s jetzt auch nicht mehr an.
    Dem geneigten Leser ist sicher nicht entgangen, dass es noch eine zweite Sache gibt, die ich vor mir herschiebe. Genau. Das Gespräch mit Paul. Sosehr ich mich darauf freue, ihn wiederzusehen – ehrlicherweise kann ich es kaum erwarten, wir haben uns jetzt tatsächlich schon 72   Tage (!) lang nicht gesehen   –, so sehr ich mich freue, so viel Bammel habe ich auch. «Ich habe meine Gründe. Und ich werde sie dir erklären und hoffen, dass du mich verstehst», hat er geschrieben. Das klingt nicht nach den üblichen Gründen, die Männer angeben, wenn sie nicht genügend Zeit für ihre Freundin aufbringen: aufreibender Job, anstrengendes Marathontraining, wichtige Bierverkostung, zwingende gesellschaftliche Verpflichtungen wie Besuche von Fußballstadien oder Autorennstrecken   …
    Ich habe Angst. Was wird er mir sagen? Kann ich das verkraften? Wird es das Ende für uns bedeuten? Oder den Anfang? Ich habe keine Ahnung. Und mache deswegen um dieses Gespräch einen mindestens genauso großen Bogen wie um die Tupperdose in meinem Kühlschrank.
    Paul scheint das zu spüren. In den letzten zwei Tagen habe ich sieben SMS von ihm erhalten. Und immer ausweichend geantwortet. Genau das Verhalten, das mich zur Weißglut bringt, wenn er es an den Tag legt. Ich fühle mich schon ganz mies. Und ich kann nicht länger davonlaufen. Ich muss mich diesem Gespräch stellen.
    «Hast du heute Zeit für mich?», tippe ich in mein Handy und schicke die Kurzmitteilung ab.
    Eine Minute später piept mein Telefon.
    «16   Uhr bei mir? Ich freue mich. Habe dich sooo vermisst. Kuss, Kuss, Kuss.»
    In vier Stunden ist es also so weit. Paul wird mir die Tür öffnen, wird unwiderstehlich jungenhaft grinsen, mit leicht heiserer Stimme «Hallo, Marie» sagen. Dann wird er mich hereinbitten, ich werde auf seiner roten Couch Platz nehmen, an naturtrübem Apfelsaft nippen und erfahren, warum er nichtmit mir zusammen sein will. Weiter kann ich im Moment nicht denken.
     
    Punkt 16   Uhr. Ich stehe vor Pauls Wohnungstür. Drücke den Klingelknopf. Höre es drinnen summen. Höre Schritte. Pauls Schritte. Er öffnet mir die Tür. Ich kollabiere beinahe. Pauls Gesicht verzieht sich zu diesem unwiderstehlich jungenhaften Grinsen. Mit leicht heiserer Stimme sagt er: «Hallo, Marie!»
    «Hachrrr   … mpf   … urgh», erwidere ich.
    Paul lächelt weiter. «Nicht reden», sagt er, nimmt mich, die noch immer wie festgekleistert auf der Fußmatte steht, an der Hand, zieht mich in den Flur und lässt die Tür hinter uns zufallen.
    Wir stehen uns gegenüber, ganz nah beieinander, ich kann Pauls Geruch einatmen und die goldenen Pünktchen in seinen grünen Augen sehen. Und die dichten, blonden Wimpern, die Sommersprossen auf seiner Nase, die Linien um seine Augen. Ich kann sein Herz schlagen hören. (Lange habe ich überlegt, ob ich diesen Satz zu Papier bringen soll, diesen Satz, der Tausende von schlechten Schlagern und mittelmäßigen Popsongs bevölkert. Ich habe ihn trotzdem aufgeschrieben, weil er der Wahrheit entspricht.)
    «Nicht reden», flüstert Paul noch einmal, als ich den Mund öffne und irgendwas sagen will.
    Seine Hände legen sich um mein Gesicht, ganz sanft, berühren es kaum. Sie gleiten von meinen Schläfen bis zu meinem Kinn, den Hals hinab, an meinen Schultern entlang, die Arme hinunter. Ich halte die Luft an. Kann mich nicht bewegen. Pauls Hände zittern leicht. Ich muss lächeln, als ich daran denke, dass er mal behauptete, immer zu zittern, nicht nur, wenn er mich sehe.
    Meine Arme gehorchen mir wieder. Ich hebe sie ein Stück und lege meine Hände an Pauls Hüften. Da packt er mich auf
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