Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer ist eigentlich Paul?

Wer ist eigentlich Paul?

Titel: Wer ist eigentlich Paul?
Autoren: Anette Göttlicher
Vom Netzwerk:
diese Dinge sind nicht wichtig, Paul. Aber mit jeder kleinen Enttäuschung glaube ich dir ein bisschen weniger. Du meinst es sicher nicht böse. Du bist ein viel beschäftigter Mann, dein Terminkalender quillt über, du kennst tausend Leute, hast zahlreiche Verpflichtungen. Schon klar. Aber weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man sich auf etwas freut, das dann einfach nicht wahr wird? Man fühlt sich klein, unwichtig, Prio 16.   Das ist kein gutes Gefühl, wenn man jemanden liebt. Und geliebt werden will. Man gewöhnt sich daran. Und das ist nicht gut, weil man etwas Schönes verlernt, das sich selbst verbietet: die Vorfreude.
    Du siehst, Paul, ich bin nicht blind gegenüber deinen Fehlern. Leider liebe ich dich trotzdem.
    Ich weiß, dass ich nicht immer fair zu dir war in der letzten Zeit. Aber ich musste mich zwischendurch ein wenig zurückziehen. Ich habe meine Gründe. Und ich werde sie dir erklären und hoffen, dass du mich verstehst.
    Wann sehen wir uns?
     
    Ich küsse dich
    Dein Paul
    Hilfe, er hat Gründe und will sie mir erläutern. Es gibt also doch etwas, was ich nicht weiß. Bevor meine Gedanken wieder Karussell fahren, bremse ich mich und lese mir lieber die zwei wichtigsten Sätze aus dem letzten Absatz durch: «Wann sehen wir uns?» und «Ich küsse dich». Er will mich sehen, er will mich sehen, er will mich sehen. Wie ein Mantra bete ich mir die vier Worte vor, immer wieder. Es hilft. Ich widerstehe dem Impuls, auf Antworten zu klicken und Paul sofort zurückzuschreiben. Er soll auch mal ein wenig warten. Ich bin eine selbständige, viel beschäftigte Frau mit einem interessanten, ausgefüllten Leben und habe nicht die Muße, alle paar Stunden meine Mails abzufragen. Außerdem werde ich frühestens am Sonntag Zeit für Paul haben. Ich hasse diese Spielchen, habe ich das schon einmal erwähnt? Aber sie müssen manchmal sein.

FREITAG, 21.   FEBRUAR 2003 – GEFANGEN IM ERDBEER-SAHNE-BONBON
    Ich befinde mich in einem engen, heißen Raum. Ich bin ganz alleine hier und werde von direkt über meinem Kopf angebrachten Halogenstrahlern erbarmungslos bis in die letzte Delle meiner frühlingsblassen Haut ausgeleuchtet. Das sehe ich in dem riesigen Spiegel, der sich direkt vor mir befindet. Es handelt sich um einen Zerrspiegel, keine Frage, der mich in die Breite zieht und optisch zehn Kilo schwerer macht. Diese Folterkammer nennt sich Hallhuber. Genauer gesagt, Hallhuber-Umkleidekabine.
     
    Guten Mutes lief ich vor einer halben Stunde hier ein, um mir ein Outfit für die Hochzeit einer Freundin zu kaufen, zu der ich im März geladen bin. Ich habe meine Kreditkarte dabei, meinen Kontostand erfolgreich verdrängt und bin willens, einenHaufen Geld in diesem Laden zu lassen. Und ich bin bald fündig geworden. Ein hübsches Kleid aus rosa Rohseide, elegant und im angesagten Asia-Style.
    Das Anziehen klappt noch einigermaßen. Ich habe zwar keine zierliche Asia-Figur, doch nach dem Öffnen aller vorhandenen Knöpfe und Reißverschlüsse gelingt es mir, mich in das rosa Ding zu winden. Puh. Geschafft.
    Na ja. An der Schaufensterpuppe sah das irgendwie doch besser aus. Das Kleid passt, wenn ich den Bauch ein wenig einziehe. Aber asiatisch-elegant mute ich darin nicht wirklich an. Eher wie ein Erdbeer-Sahne-Bonbon. Bäh. Bisher fand ich mich immer weiblich gerundet, mit hübschen Kurven. Jetzt scheint es überall zu schwabbeln. Das muss der Zerrspiegel sein. Ich habe kein Figurproblem. Paul findet, dass ich einen sehr begehrenswerten Körper habe. Paul – was sucht eigentlich Paul schon wieder hier, in meinem Kopf, in meinen Gedanken, in der Hallhuber-Umkleidekabine? Geh weg, Paul. Ich kann dich jetzt echt nicht brauchen.
     
    Ich versteh’s einfach nicht. Wäre ich für die Ausstattung der Anprobekabinen eines Kleidungsgeschäftes zuständig, ich würde alles anders machen. Die Mädels sollen doch selbstbewusst und mit vielen teuren Klamotten beladen nach Hause gehen, statt sich mit Depressionen und Komplexen in die Essstörung zu stürzen, oder? Ich würde die fiesen Halogenleuchten durch ein schummriges, indirektes Licht ersetzen. Außerdem würde ich den Spiegel einen Tick nach vorne kippen, sodass er die Figur der sich Betrachtenden fast unmerklich in die Länge zieht, statt aus einer normalgewichtigen Frau mit einem BMI von 20,5 einen Germknödel mit Orangenhaut zu machen.
    Mein Spiegel zu Hause im Flur ist genau so angebracht. Ich weiß, dass er mich betrügt. Ein kleines bisschen. Ein so kleines
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher