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Wer ist eigentlich Paul?

Wer ist eigentlich Paul?

Titel: Wer ist eigentlich Paul?
Autoren: Anette Göttlicher
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Off-Knopf des Radioweckers zu finden. Endlich erwische ich die richtige Taste, und himmlische Ruhe herrscht in meinem vom Morgenlicht durchfluteten Schlafzimmer. Etwa fünf Sekunden später reißt mich ohrenbetäubender Lärm aus meinem Einschlummern. Empört krabble ich unter meiner Decke hervor und sehe aus dem Fenster. Auf dem Balkongeländer sitzt, fast noch besser gelaunt als der Radiomoderator, ein Vogel und singt (?) aus voller Kehle. Dabei späht er neugierig in die Wohnung. Ich zische ihm etwas von Hausfriedensbruch und Amselgeschnetzeltem zu, was ihn aber nicht im Geringsten zu beeindrucken scheint, und flüchte anschließend vor seinen starren Blicken ins Badezimmer. Wäre ich doch nur an die Landshuter Allee gezogen statt in diese idyllische Neuhausener Seitenstraße, dann würden mich morgens keine aufdringlich trällernden Gartenhühner wecken, sondern das gleichförmige Vibrieren eines Schlagbohrers von der Baustelle an der Ecke   …
     
    Unter der Dusche schließe ich die Augen und versuche, den wunderschönen Traum der letzten Nacht zurückzuholen. Ichweiß, wenn ich mich nicht gleich daran erinnere und ihn festhalte, ist er für immer verloren.
     
    Ich war in Berlin, und es war Frühherbst, ein milder Abend. Ich musste zu einem Termin und fuhr mit der S-Bahn Richtung Mitte. Die Bahn fuhr an verfallenden alten Bahnhofsgebäuden und von Gras überwucherten Abstellgleisen vorbei, die Sonne schien schräg in das alte Abteil mit den unbequemen Holzbänken, und in der warmen Luft tanzten Staubkörner. Der Zug bremste, als er in den nächsten Bahnhof einfuhr, ich blickte aus dem fleckigen Fenster nach vorne auf den Bahnsteig und sah ihn schon von weitem. Er war der einzige Mensch weit und breit und saß ruhig auf einer grünen Holzbank. Sein Gesicht war der einfahrenden Bahn zugewandt, genauer gesagt, mir. Er lächelte und stand auf, als der Wagen, in dem ich mich befand, exakt vor der grünen Bank zum Stehen kam. Wie selbstverständlich ging ich zur Tür, öffnete sie und trat in die Wärme des Abends auf den verlassenen Bahnsteig. Es roch nach Schmieröl und warmem Holz. Keiner von uns sagte ein Wort, und wir fielen uns nicht in die Arme. Er nahm meine Hand in seine, und wir gingen los, die Landstraße entlang. Ach ja, ich vergaß zu erwähnen, dass sich die Location inzwischen gewandelt hatte. Ich kann mich erinnern, mitten im Traum angesichts der staubigen Landstraße, die schnurgerade zwischen gelben Weizenfeldern auf den Horizont zulief, kurz gedacht zu haben: was für ein Klischee, wie in einem zweitklassigen Roadmovie. Jedenfalls wanderten wir weiter, schweigend, Hand in Hand, und ab und zu blieben wir stehen, um uns anzusehen. Er lächelte mich an und legte seine Hand an mein Gesicht, und ich schmiegte es hinein. Er küsste mich nicht, er nahm mich nicht mal in den Arm, und doch fühlte ich mich am richtigen Platz und aufgehoben wie lange nicht mehr.
     
    Das ist alles, was ich von diesem relativ unspektakulären Traum rekonstruieren kann. Doch das warme Gefühl ist noch da, genauso stark wie im Schlaf, und es ist so intensiv, als sei die Begegnung real gewesen.
     
    Ich steige aus der Dusche, wickle mir ein Handtuch um den Körper und eines um die Haare und tappe aus dem dichten Wasserdampf hinaus in den Flur. Nach diesem Tagesbeginn fühle ich mich wie die Heldin eines modernen Romans. Jetzt muss ich erst mal eine rauchen, befinde ich und ignoriere das Gefühl, gar keine Lust auf eine Zigarette zu haben. Romanheldinnen rauchen auch immer erst mal eine, wenn sie nach einem mystischen Traum aus der heißen Dusche kommen. Auf dem Balkon überkommen mich leichte Zweifel daran, ob Romanheldinnen auch morgens nicht in der Wohnung rauchen. Wahrscheinlich nicht. Genauso wenig, wie sie Probleme damit haben, ein handelsübliches Feuerzeug zu bedienen. Endlich habe ich es geschafft, die Zigarette (Kippe, würde es im modernen Roman vermutlich heißen) anzuzünden, und inhaliere den ersten Zug.
    Fünf Minuten später schlurfe ich mit eiskalten Füßen und einem unguten Gefühl im Magen zurück ins Wohnzimmer. Das Romanfeeling ist verschwunden. Doch die Wärme ist wieder da, sobald ich an meinen Traum denke. Da fällt mir etwas auf. Der Mann aus meinem Traum   … Das war nicht etwa Paul. Das war Peter. Sehr biblisch. Weniger biblisch hingegen war meine Zeit mit Peter vor über zehn Jahren   …
     
    Peter, meine erste große Liebe. Ich war 17 und er 31.   Und es war Sommer. Als ich ihn kennen lernte,
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