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Wer anders liebt (German Edition)

Wer anders liebt (German Edition)

Titel: Wer anders liebt (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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Rippen waren zerteilt, die inneren Organe lagen in Stahlschüsseln auf dem Arbeitstisch, sie waren gewogen und untersucht worden. Leber, Nieren und der Herzmuskel, der zehn Jahre lang geschlagen hatte. Alles roch scharf und faulig, eine Mischung aus süßlich und verwesend und noch etwas anderem, das an Fischabfall erinnerte. Der rotblonde Gerichtsmediziner hob eine oszillierende Säge auf, um den Schädel zu öffnen, das Kreischen der Säge hallte durch den Obduktionssaal, und ein seltsamer Brandgeruch füllte den Raum.
    »Wenn ein zehn Jahre alter Junge soviel wiegt, hat er diverse Probleme«, erklärte Snorrason. »Knieschmerzen, Blasen an den Füßen, Gelenkschmerzen, Atemnot. Schlimmstenfalls Diabetes. Und psychisch gesehen ist die Belastung enorm, er kann mit seinen Kameraden nicht Schritt halten. Sein Leben muss eine arge Plackerei mit vielen Schwierigkeiten gewesen sein. Außerdem können wir Folgendes feststellen: Wenn er weiter so zugenommen hätte, wäre er nicht alt geworden. Früher oder später bricht das Herz vor Überanstrengung zusammen.«
    Er schwieg eine Weile und arbeitete weiter, dann sprach er wieder über den Fluch der Fettleibigkeit.
    »Außerdem ist es so«, sagte er, »dass fette Menschen rascher verwesen als dünne.«
    »Wieso das denn?«, fragte Sejer.
    »Weil die soviel Subkutanfett haben. Das Fett isoliert gegen Wärmeverlust, die Wärme lässt den Körper verwesen. Verstanden?«
    Sejer nickte. Er selbst war einen Meter sechsundneunzig groß, und er wog dreiundachtzig Kilo, er konnte sich also möglicherweise auf eine ganz normale Verwesungszeit freuen, wusste aber nicht so recht, ob er das als Vorteil betrachten sollte. Er musterte den Arzt verstohlen, er hätte gern gewusst, was dieser Beruf eigentlich mit einem machte, ob man oft an sein eigenes Ende dachte, seine eigene Verwesung oder die seiner Kinder.
    »Findest du Anzeichen für Misshandlung oder Erwürgen?«, fragte Sejer.
    Snorrason schüttelte den Kopf.
    »Nichts davon«, sagte er. »Bisher nicht. Keine äußeren Anzeichen von Gewaltanwendung. Der Kehlkopf ist unversehrt. Keine Frakturen im Schädel. Keine Anzeichen von Läsionen oder Stichwunden. Blut und Gewebe gehen in die Toxikologie, es dauert ein oder zwei Wochen, bis die Antwort kommt. Aber also. Bisher keine Funde.«
    Er schaute auf. »Bist du überrascht?«
    »Nein.«
    »Er ist an den Folgen von Dehydrierung gestorben.«
    »Das soll heißen, dass er verdurstet ist, oder?«
    »Beugt euch mal vor und seht euch das an.«
    Snorrason hob Edwins rechte Hand vom Tisch hoch.
    »Seht euch seine Finger an, seht euch seine Nägel an, die sind halb in Fetzen gerissen.«
    »Er hat versucht, sich durch die Luke zu kratzen«, sagte Sejer.
    »Ich fürchte, davon müssen wir ausgehen.«
    »Das bedeutet, dass er lebendig begraben worden ist«, sagte Skarre. »Was ist das für ein Tod?«
    »Einer der allerschlimmsten«, sage Snorrason. »Man braucht sehr lange, um zu verdursten. In diesem Fall, bei Edwin, tippe ich auf fast eine Woche. Minimum vier, fünf Tage. Ganz allein hat er in der Dunkelheit gelegen und ist schwächer geworden. Nach einer Weile wurde ihm schlecht, die Nervenzellen im Gehirn funktionierten nicht mehr richtig, das Herz konnte nicht mehr mit voller Kraft schlagen, das Blut dickte in seinen Adern ein. Er versank in einem Zustand der allertiefsten Verzweiflung, und er war delirös. Er hat nach seiner Mutter gerufen und hat vielleicht zu Gott gebetet. Am Ende ist er ins Koma gefallen.«
    »Und das«, sagte Sejer, »müssen wir Tulla Åsalid mitteilen.«
    48
     
    Sie verließen das Gebäude.
    Sie blieben stehen und schnappten nach Luft.
    Sie überquerten den Platz und setzten sich ins Auto. Frank Robert, der auf dem Rücksitz gewartet hatte, steckte die Schnauze zwischen die Vordersitze. Sejer steckte ihm einen Hundekeks zu, Skarre öffnete das Fenster. Nach der Präsenz des Todes im Obduktionssaal war das Leben besonders deutlich geworden, die Wolkenformationen am Himmel, die wehenden Baumkronen, die Sonne, die ein Fenster zum Blinken brachte, die parkenden Autos. Zwei Krankenschwestern überquerten den Platz vor dem Krankenhaus, Skarre sah hinter ihnen her, die weißen Kittel leuchteten in der Frühlingssonne fast von selbst.
    »Er hat nichts gefunden«, sagte Skarre.
    »Nein«, sagte Sejer. »Aber auch das hat etwas zu bedeuten.«
    »Ich habe so einige Ideen, aber ich weigere mich, die zu Ende zu denken.«
    »Das weiß ich, aber das ist alles, was wir haben. Wer sperrt
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