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Wenn nicht jetzt, wann dann?

Titel: Wenn nicht jetzt, wann dann?
Autoren: Astrid Ruppert
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Morgen und fühlte eine so steinschwere, bleierne Müdigkeit in allen Gliedern, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen. Sie griff nach dem blauen Schal, der neben ihr auf dem Bett lag, und zog ihn über sich. Dabei musste sie an Nina denken und dann an Claus Winter. Und dann an Hannes.
    Sie schob den Schal beiseite. Vielleicht wäre es für sie irgendwann einmal schön, seine Weichheit zu spüren, im Moment war es alles andere als das. Sie wollte sich nicht an diese zwei Wochen Frühling erinnern, die nun gerade hinter ihr lagen. Zwei Wochen, in denen ihr Leben einem Ausnahmezustand geglichen hatte, den sie mit dem normalen Leben verwechselt hatte. Bis dahin war alles gutgegangen. Solange ihr klar gewesen war, dass es ein Ausnahmezustand war, in den sie durch Liz’ Unfall katapultiert worden war, war alles noch in Ordnung gewesen. Doch als sie gedacht hatte, es könnte immer so weitergehen, als sie gedacht hatte, dass es auch für sie ein Leben gab, mit Blumen und mit Freunden, mit Geschäftigkeit und Lachen, Essengehen und Türaufhalten, mit Einkaufen und Strumpfhosen, die fast so viel kosteten wie ein paar Schuhe und trotzdem nicht halb so lange hielten, mit gemeinsamen Stunden, in denen man zusammen schweigen konnte, mit Stunden, in denen man sich ein Leben erzählen konnte und in denen sie einfach so sein konnte, wie sie war, Stunden, in denen sie wahrgenommen wurde. Als sie geglaubt hatte, all dies sei möglich, ab da war alles schiefgegangen. Nun würde es ihr schwerfallen, sich wieder an ein Leben zu gewöhnen, in dem all das fehlte. Aber sie hatte ja Übung darin, sich an etwas zu gewöhnen, das weniger war, als sie erwartet hatte. Ein Leben lang hatte sie dies geübt. Es würde ihr auch dieses Mal wieder gelingen. Ohne Backen, ohne Träumen. Auf sie wartete ein Stoß Bügelwäsche, Blusen, die sie akkurat zusammenfalten konnte, und auf sie warteten viele Teppichfransen, die seit Tagen nicht gekämmt worden waren. Es war nicht gut, wenn die Dinge durcheinandergerieten. Überhaupt nicht gut.
    Nach dem Frühstück, das wie gewohnt aus zwei Scheiben Brot mit zwei Sorten Marmelade auf fast harter Butter bestand, stellte sie das Bügelbrett im Wohnzimmer auf und machte sich an die Arbeit. Nach einer Weile schaltete sie den Fernseher ein, damit ihre Gedanken sich nicht verselbständigten, sondern schön klein und gehorsam bei der Sache blieben.
    Als ein feuriger Liebhaber vor seiner Angebeteten niederkniete und eine Rosenblüte zerzupfte, um die Blätter vor ihr auszustreuen und zu flüstern, sie solle stets auf Blüten wandeln, schaltete Annemie den Fernseher jedoch schnell wieder ab. Da boten ihr ja sogar die eigenen Gedanken mehr Sicherheit. Irgendwann war der Bügelkorb leer, und sie räumte die glatte Wäsche schön ordentlich in ihren Schrank, rückte die Kanten noch einmal gerade und zog sich ihre Straßenschuhe an, um etwas zum Mittagessen kaufen zu gehen. Sie nahm den Stoffbeutel mit den Liebesromanen von der Hutablage, griff nach ihrer Handtasche mit dem Portemonnaie und trat in den Flur, um die Tür hinter sich zu schließen. Als Allererstes würde sie Waldtraud bitten, kein Wort über die letzten zwei Wochen zu verlieren, sonst würde Annemie eben woanders einkaufen gehen. Das musste sein. Und keine mitleidigen Blicke, die würde sie sich auch verbitten. Frau Schneider brauchte sie wahrscheinlich nicht darum zu bitten, Frau Schneider vergaß in der Regel schnell.
    Annemie ging durch das Treppenhaus nach unten, trat aus der Haustür und erstarrte. Vor ihr leuchtete ein blaues Blumenmeer. Wogte fröhlich im Frühlingswind, schien voll blauer Blüten in den Himmel hinauf, der ebenso blau von oben herabschien. Blaue Hortensien überall. Sie standen Spalier auf den Stufen, sie säumten den Bürgersteig links und rechts und ließen nur eine schmale Gasse frei, die sie vorsichtig staunend beschritt. Sie sah Liz, die auf dem Balkon stand und herunterwinkte, sie sah Frau Schneider lächelnd aus dem Fenster darüber winken, weiter hinten, vor dem Edeka, sah sie Waltraud aufgeregt von einem Bein auf das andere springen, sie schien ihr irgendetwas zuzurufen, aber Annemie konnte sie nicht verstehen.
    Annemie setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und staunte über diesen Weg, über dieses Leuchten, über dieses Blau. Sie ging den schmalen Weg Schritt für Schritt immer weiter, bis sie plötzlich vor einem alten Lieferwagen und Hannes stand, der ihr beide Hände entgegenstreckte.
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