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Wenn Kinder um sich schlagen

Titel: Wenn Kinder um sich schlagen
Autoren: Ruediger Penthin
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Melanies Schreien noch viel heftiger als Heike. Mehr als einmal fasste er das Baby ruppig an und drohte auch Heike mit Gewalt.

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    Bedeutsam für die erste Stufe der Entstehung problematischen Verhaltens bei Kindern sind ungünstige Erlebnisse in der Familie.
    Schon im ersten Lebensjahr erfuhr Melanie Gewalt und das Gefühl, nicht geliebt zu sein. Sie konnte kein Vertrauen zu ihren ersten Bezugspersonen in ihrer Familie entwickeln. Da Melanie von ihren Eltern nie gezeigt wurde, dass sie liebenswert und ein tolles Baby war, konnte sich auch kein grundlegend stabiles Selbstwertgefühl entwickeln (vgl. Kapitel 4: »Psychosoziale Risiko- und Schutzfaktoren«).
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    Melanie lernte erst spät krabbeln. Erst als sie etwa ein Jahr alt war, machte sie die ersten Versuche, sich krabbelnd fortzubewegen. Die ersten freien Schritte machte sie erst mit eineinhalb Jahren. Melanie selbst war mit dieser Situation merklich unzufrieden. Schon als sie knapp neun Monate alt war, erwachte ihr Bedürfnis, ihre häusliche Lebensumwelt zu erkunden. Wie gerne wäre sie zum nahe stehenden Tisch gekrabbelt oder hätte den in zwei Meter Entfernung liegenden bunten Ball in ihren Händen gehalten! Sie verzweifelte schier an der Unmöglichkeit, diese Dinge zu erreichen, und schrie viel vor Zorn und Hilflosigkeit.
    Heike kannte Melanies Bedürfnisse nicht, sie hatte ja nie gelernt, auf Babybedürfnisse zu achten. Andererseits machte es ihr die bestehende innere Mauer zwischen ihr und ihrem Baby sowieso sehr schwer, sich auf Melanie einzulassen. Heike verstand nicht, dass Melanies Jammern einer eigentlich gut verständlichen Unzufriedenheit und Hilflosigkeit entsprang. Melanie wollte mehr, als sie konnte, und das machte sie natürlich unzufrieden. Stattdessen empfand Heike Melanie als »böse« und »nervtötend«. Wenn Melanie schrie, wurde sie in ihr Bett gesteckt und die Tür zum Zimmer wurde verschlossen. Denn Heike konnte Melanies Geschrei nicht ertragen. In ihrer Verzweiflung schrie Melanie immer lauter und intensiver,
manchmal auch über Stunden, sie wollte einfach nicht aufgeben. Meistens war es dann Heikes Mutter, die das herzzerreißende Geschrei nicht mehr ertragen konnte und Melanie dann befreite. Jedoch auch die Oma war nicht begeistert von Melanies Geschrei. Sie setzte sie dann meist in den »Wipper«, gab ihr ein paar Spielsachen und war froh, wenn Melanie endlich still war.
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    Melanie lernte schon sehr früh Gefühle wie Hilflosigkeit, Verzweiflung und Wut über ihr Allein-gelassen-Sein kennen. Sie spürte aber auch, dass ihr lautstarker Protest immer zum Ziel führte, doch hochgenommen zu werden, um einen kurzen zwischenmenschlichen Kontakt, und sei es zur Oma, zu erleben. Wenn dieser Kontakt meist auch nicht sehr liebevoll geprägt war, so spürte sie doch, dass ihr irgendeine Art von Aufmerksamkeit geschenkt wurde, wenn sie nur ausdauernd genug schrie. Sie spürte jedoch auch, dass dieser zwischenmenschliche Kontakt sehr rasch abbrach, wenn sie ruhig in ihrem »Wipper« spielte. Sie lernte somit, dass ruhiges, friedliches Spielen immer wieder mit Kontaktabbruch bestraft wurde (Oma und Mutter waren froh, endlich ihre Ruhe zu haben, und zogen sich von Melanie zurück).
    Somit hatte sich eine verhängnisvolle Lernerfahrung bei Melanie festgesetzt, nämlich die Erfahrung, vor allem durch »schwieriges«, lautstarkes und aggressives Verhalten Aufmerksamkeit zu bekommen. Dabei spielt es keine Rolle, dass diese Aufmerksamkeit negativ getönt war (genervter, nicht einfühlsamer Umgang mit dem Baby). Wir Menschen sind von Natur aus Lebewesen, die Beachtung und Aufmerksamkeit benötigen. Daher ist es vielen Kindern lieber, negative Aufmerksamkeit zu erhalten als gar keine Aufmerksamkeit (vgl. Kapitel 4: »Psychosoziale Risiko- und Schutzfaktoren«). Mit dieser Erfahrung im Familienumfeld ist die erste Stufe der Entstehung eines problematischen Sozialverhaltens eingeleitet.
Mit zunehmender Bewegungsmöglichkeit (Krabbeln, Laufen) versuchte Melanie, ihre Umgebung in ganz natürlicher Weise zu erkunden. Da sie wegen ihrer vorzeitigen Geburt und der vielen Probleme in den ersten Lebenswochen eine Entwicklungsverzögerung vor allem im Bereich der Bewegungsentwicklung zeigte, misslang Melanie vieles. Einmal hielt sie sich an der Tischdecke fest und zog diese mitsamt Gläsern und Tassen vom Tisch. Nicht nur bei dieser
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