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Wenn ich dich gefunden habe

Wenn ich dich gefunden habe

Titel: Wenn ich dich gefunden habe
Autoren: Ciara Geraghty
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hüllt die Schönheit sie ein wie ein Kleid. Ich folge ihrem Blick zu einem Mann. Einem kleinen Mann mit einem riesigen Hund, der an seiner Leine zerrt. Ich weiß, dass der Hund Clouseau heißt, auch wenn ich nicht sagen könnte, woher ich das weiß. Der Hund steuert winselnd auf einen anderen Hund zu, eine ziemlich hässliche Promenadenmischung mit einem Kopf, der im Verhältnis zum Körper viel zu klein ist. Dass er ausgerechnet Lucky heißt, könnte man in Anbetracht seines eklektischen Äußeren fast schon paradox nennen. Clouseau jedoch geht nicht nach Äußerlichkeiten, sondern nach den inneren Werten. Er hat ein gutes Gespür dafür. Er wusste von Anfang an, dass Lucky kein böser Hund ist sondern einer, dem Böses wiederfahren ist. Clouseau reißt sich los – offenbar war sein Herrchen abgelenkt und hat die Leine nicht richtig festgehalten – und galoppiert zu Lucky, um höflich an seinem Hinterteil zu schnuppern, ehe er ihm einmal kurz
über die Schnauze leckt. Lucky berichtet ihm von einem Hasen, den er vorhin im langen Gras auf der Hügelkuppe erspäht hat. Die beiden preschen los, obwohl sie wissen, dass sie keine Chance haben. Zwei unverbesserliche Optimisten. Das verbindet sie – ihr Optimismus.
    Stanley Flinter scheint gar nicht bemerkt zu haben, dass sich sein riesiger Lurcher mit seinem lieben Freund und Kompagnon aufgemacht hat, um der hiesigen Hasenpopulation nachzustellen. Er sieht sehr schick aus in seinem dunkelblauen Anzug mit den silbergrauen Nadelstreifen, obwohl die Hose gute zweieinhalb Zentimeter kürzer sein könnte. Sein dunkles Haar sieht aus, als wäre es frisch geschnitten worden, vielleicht erst heute Vormittag. Es ist noch etwas ungewohnt, dass seine Stirnfransen nicht mehr senkrecht in die Höhe stehen.
    Er hat noch immer nicht registriert, dass Clouseau weg ist, was bei einem so großen Tier doch recht erstaunlich anmutet. Er sieht zu Dara Flood, und in diesem Moment geschieht etwas mit ihm. Man erkennt es daran, wie er die Hand hebt, um sich über die Stirnfransen zu streichen, obwohl das gar nicht mehr nötig ist. Daran, wie seine braunen Augen dunkler werden, fast schwarz. Aber vor allem erkennt man es an seinem breiten Lächeln, das immer noch breiter wird. Er sieht aus, als hätte er viel mehr bekommen, als er je erwartet hatte. Er geht auf Dara zu, und sie kommt ihm entgegen. Sie treffen sich vor dem Grab von Slither Smith, Gott hab ihn selig. Slither war ein schöner Abgang vergönnt: Er starb an seinem Stammplatz in seinem Stammpub, die Taschen voller Geld und einen Stift in der Hand, vor sich einen gelben Wettschein. Sie haben es erst zur Sperrstunde gemerkt. Haben angenommen, er wäre mal wieder im Suff eingeschlafen. Dr. Mac soll geweint
haben, als es ihm zu Ohren kam, aber das kann eigentlich nicht stimmen. Oder?
    Dara und Stanley sehen auf den Grabstein mit der Aufschrift »Hier ruht Slither Smith – ein Pferd von einem Mann« hinunter.
    Sie schweigen kurz.
    Dara beißt sich auf die Unterlippe, dann sagt sie: »Ich bin froh, dass du da bist.« Sie flüstert es nur, doch die Worte klingen hell und klar wie Weihnachtsglocken. Im Grunde hätte sie es gar nicht aussprechen müssen – man sieht es ihr deutlich an. »Ich weiß, für solche Aussagen ist es noch zu früh. Tintin würde mich umbringen. Aber ich habe schon so viel Zeit verschwendet, und es ist wahr, also …«
    Stanley berührt ihren Hals, so zärtlich, dass ich kurz den Blick abwenden muss. Als ich wieder hinsehe, küssen sie sich. Ziemlich leidenschaftlich, wenn man bedenkt, wo sie sich befinden. Dara küsst, wie sie tanzt: selbstvergessen. Als würde ihr niemand dabei zusehen.
    »Ich auch«, sagt Stanley schließlich.
    Daras Lächeln verwandelt alles. Die Welt ist plötzlich ein Ort, an dem das Pferd, auf das ich gesetzt habe, jedes Mal gewinnt. Sie umarmen einander über das Grab hinweg, als wäre es gar nicht da. Sie sehen aus wie zwei Menschen, die etwas gefunden haben, nach dem sie sehr, sehr lange gesucht haben.
    Ich schwebe höher hinauf, kann nichts mehr hören, kann sie nur noch sehen. Manchmal ist das so. Sie stellen sich in einem Kreis um mein Grab, und Dara streut eine Handvoll rote Rosenblätter darauf. Manche wehen, von einer sanften Brise erfasst, davon, andere landen auf dem warmen, lehmigen Erdhügel und bleiben dort liegen.
    Sie sind wunderschön.
    Die Welt birgt so viel Schönheit in sich.
    Wenn wir nicht hin und wieder innehalten und sie bewusst betrachten, übersehen wir
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