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Wenn Es Dunkel Wird

Wenn Es Dunkel Wird

Titel: Wenn Es Dunkel Wird
Autoren: Manuela Martini
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der Couch eingeschlafen, während er, Julian, mit der Originalfassung von Candide auf seinem Bett liegt und sich abmüht, dem Inhalt zu folgen. Nach knapp einer Stunde gibt er es auf. Es ist ja immer noch Zeit, sagt er sich und weiß, dass er sich etwas vormacht. Wenn er sich nicht anstrengt, kann er sein Abi nächstes Jahr vergessen. Er wirft einen Blick auf sein iPhone, das nutzlos auf dem polierten Nachttisch liegt. Man müsste ein Stück die Straße hochgehen oder sich an die entfernteste Ecke des Pools auf einen Stuhl stellen, um Empfang zu bekommen. Aber dazu hat er jetzt keine Lust. Es ist ein seltsames Gefühl, völlig abgeschnitten von der Welt zu sein. Er legt das Buch auf den Nachttisch mit den gedrechselten Beinen und fällt gleich darauf in einen Schlaf voller beunruhigender Träume, an die er sich aber schon nicht mehr erinnern kann, als er zwei Stunden später schlecht gelaunt aufwacht.
    Es wird Zeit, dass Claas und Mel kommen, denkt er. Obwohl Claas ein intellektueller Ehrgeizling ist, kann er sich auch wie ein Kumpel benehmen. Außerdem ist Julian auf seine Freundin Mel – also auf mich – gespannt. Claas hat ihm auf seinem Handy ein Foto gezeigt. Aber da erkannte man nicht viel drauf. Das Bild ist zu weitwinklig aufgenommen und außerdem geblitzt. Dabei macht Claas sonst ziemlich gute Fotos, denkt Julian. Und: Hoffentlich ist sie nicht so eine Zicke.
    Sein Mund ist trocken vor Durst. Aber er hat keine Lust aufzustehen. Träge und unentschlossen betrachtet er die hellblau-goldene Streifentapete, den gewaltigen alten Schrank mit den geschwungenen Spiegeltüren und den Schnitzereien, den dazu passenden Stuhl in der Ecke neben der Tür, über den er seine Klamotten geworfen hat, den Sekretär mit den Schubfächern und den anderen Schulbüchern, die er seit der Ankunft noch nicht angerührt hat.
    Es gibt eine Regel hier im Haus, die nie gebrochen werden darf. Dieses Versprechen hatte ihre Mutter allen abgenommen, einschließlich ihrem Mann: Haus und Pool sollten unverändert bleiben. Keine Poster, keine Bilder dürften angebracht werden, keine anderen Tapeten (ein paarmal hatten sie neu tapezieren müssen, aber stets hatte seine Mutter alles darangesetzt, die gleiche oder zumindest eine möglichst ähnliche Tapete zu bekommen).
    Auf dem Boden im Parterre, also im Eingangsbereich, im großen Wohnraum mit offenem Kamin und in der Küche ist ein Schachbrettmuster aus schwarzen und weißen Fliesen verlegt, in den oberen Räumen dunkel gebeiztes Parkett. In der Küche hängen zwar wie früher polierte Töpfe und Pfannen an der Wand, aber auf einen modernen Kühlschrank und einen Elektroherd hat dann selbst Frau Wagner nicht verzichten wollen. Auch einen Fernseher, wenn auch ein altes Teil gleich neben dem Kamin hat sie zugelassen. Doch wenn Julian am langen schweren Esstisch sitzt, über sich den Leuchter aus Hirschgeweih, kommt er sich vor wie in einem Film. Mit Matt Damon. Dieser Typ, der in die Rolle seines Freundes schlüpft.
    »He!« Tammy reißt die Tür auf. Er fährt hoch. Er hat ihre Schritte auf dem knarrenden Parkett gar nicht gehört. Sie trägt ein Paar knappe Sportshorts und das enge Trägershirt, das er ihr mal aus Australien mitgebracht hat, und wirft seine Sportschuhe auf sein Bett.
    Sie grinst ihr Piratengrinsen, so nennt er es immer, weil es was Verwegenes und manchmal etwas Hinterhältiges hat.
    »Meinst du, dieser Schriftsteller«, sagt er noch immer in Gedanken, »dem dieses Haus gehört hat, lebt noch irgendwo, unter einem anderen Namen?«
    »In drei Minuten geht’s los.«
    »Oder vielleicht hat ihn jemand umgebracht? Ich meine, wieso verschwindet jemand so einfach?«
    Tammy zuckt die Schultern. »Ist mir egal, ich geh jetzt biken und du kommst gefälligst mit, sonst werden wir fette Alkis wie in den Doku-Soaps. Ich fühl mich schon, als wär ich eine Stufe in der Evolution tiefer gerutscht.«
    »Was wär daran so schlimm, ein Affenleben zu führen?«
    »Ich mag keine behaarten Hintern!«
    »He, es gibt auch Paviane und die haben …«
    Sie hat sich schon umgedreht. »Du hast noch zwei Minuten, sonst fahr ich allein, Affenarsch!«

4
    In gewisser Hinsicht, glaube ich, war dieser Fahrradausflug bedeutungsvoll, die beiden sprachen jedenfalls mehrmals davon und womöglich hätten wir sonst auch nicht nach diesem Alarm das Haus durchsucht und – ja – das Buch gefunden.
    Die Biketour der beiden habe ich mir immer so vorgestellt:
    Im Nachmittagslicht strahlt das Gebirge, das sich hinter
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