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Wenn es dunkel wird im Märchenwald ...: Die zertanzten Schuhe

Wenn es dunkel wird im Märchenwald ...: Die zertanzten Schuhe

Titel: Wenn es dunkel wird im Märchenwald ...: Die zertanzten Schuhe
Autoren: Kira Maeda
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geisterhafte Frau im Spiegel hatte ihm ihr Gesicht zugewandt, weil sie wusste, dass er da war. Die Gestalt hatte Marek direkt in die Augen gesehen.
     
    Der Geruch nach brennendem Holz weckte ihn. Er schlug die Augen auf und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie waren trocken und spröde; der Geschmack von kalter Asche lag darauf. Marek nahm seinen Wasserbeutel aus dem Gepäck und spülte sich den Mund aus; den Schluck Wasser spuckte er in den erkalteten Kamin. Dann erst stand er auf, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sein Schwert noch versteckt und der Dolch in der Scheide war.
    Der Geruch nach Harz und Holz wurde im Flur stärker. Marek hörte den Alten lamentieren und beschleunigte seinen Schritt. Er fand die gebeugte Gestalt am anderen Ende des Flures in einer offenen Tür. Er schien Angst zu haben, den Raum dahinter zu betreten, gleichzeitig zog ihn etwas immer wieder dorthin. Wie an unsichtbaren Fäden gezogen, wankte er vor und zurück, ohne vor- oder zurückzugehen.
    „Alter?“, rief Marek und näherte sich ihm. Kaum hatte er den Namen ausgesprochen, sprang der Mann herum und starrte ihn an, als hätte er ihn zum ersten Mal gesehen. „Du lebst?!“
    Marek schnaubte leise. „Sollte ich tot sein?“
    Der Alte legte den Kopf schief und musterte ihn. „Ja“, sagte er. „Ich hätte gedacht, du wärst es.“ Dann glomm etwas in seinen Augen auf und plötzlich sehr eifrig, fasste er Mareks Arm und zog ihn in das offene Zimmer. Dieser Raum war anders als die wenigen Zimmer und Säle, die Marek bisher gesehen hatte. Er war ebenfalls groß, doch vollgestopft. Jede freie Stelle war als Stellplatz für ein Bett genutzt worden. Insgesamt waren es zwölf, kreuz und quer im Zimmer angeordnet. Sie waren kostbar ausgestattet, mit leichten, zerfetzen Gazevorhängen. Die Laken und Decken waren reinweiß und in jedem Bett lag eine Frau.
    Der Alte führte Marek zwischen den Betten hindurch – eine schlafende Frau schien schöner zu sein als die andere. Jede von ihnen war in ebenso weiße Kleider wie die Laken gehüllt und alle schliefen.
    „Meine Töchter“, brach der Alte das Schweigen, während Marek die Frauen betrachtete. „Sie schlafen auf diese Weise schon seit fast einem Jahr.“
    Marek trat an eines der Betten näher heran. Blondes, lockiges Haar, das Gesicht eines Engels – er hatte diese Frau bereits gesehen, ebenso wie die zarte Gestalt mit den kastanienbraunen Haaren, die im Bett daneben lag. Es waren die Frauen aus den Spiegeln. „Niemand kann so lange schlafen“, murmelte Marek abwesend und konnte seine Augen nicht von den beiden Frauen nehmen. Sie sahen so unterschiedlich aus, aber die Form der Gesichter und die zarten Züge waren ähnlich.
    „Sie tun es auch nicht immer, dummer Kerl!“, keifte der Alte und war erstaunlich schnell an Mareks Seite und riss die Bettdecke der blonden Tochter weg. Das Kleid war nicht mehr nur weiß; wie aufgestickte Blüten hatten sich Blutflecken auf dem Stoff ausgebreitet. Marek war sicher, dass er unter dem Stoff die Striemen der letzten Nacht sehen würde. Doch das schien dem Alten nicht genug zu sein. Überraschend behutsam zog er der anderen Frau den linken Schuh aus. „Sieh dir das an – sieh dir an, was meine Töchter tun!“
    Marek hütete sich, den Schuh zu berühren, aber er betrachtete ihn genau. Es waren teure Damastschühchen mit einer hauchdünnen Sohle aus Pappe. Anscheinend hatte die Trägerin getanzt und gefeiert, denn die Pappe unter dem Fußballen war zerrissen und durchgescheuert, als hätte sie viele Pirouetten zum Klang von Musik gedreht.
    „Sie feiern“, murmelte der Alte, aber das irre Funkeln hatte seinen Blick noch nicht verlassen. „Sie tanzen, sie trinken, sie vergnügen sich auf abartige Weise – sie leben, Söldner, sie leben! Aber mich haben sie zu diesem Unleben verdammt. Mich lassen sie dahinvegetieren und bringen jedem den Tod, der mich erlösen will.“
    „Wann tanzen sie? Woher weißt du das alles?“ Marek hatte eigentlich vorgehabt, dieses unselige Gemäuer an diesem Tag wieder zu verlassen, aber diese neue Wendung ließ ihn stutzig werden. Er war sicher, dass die vergangene Nacht kein Traum gewesen war und auch wenn er die blonde Tochter bei ihrem seltsamen „Schmerz-Lust“-Spiel beobachtet hatte, war es der Blick der brünetten Tochter, der ihn nicht losließ. Sie hatte ihn gesehen und sie wusste, dass er da gewesen war.
    „Nachts“, brummte der Alte, der sorgsam den Schuh wieder auf den Fuß der jungen
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