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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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Projekt erwies sich als viel schwieriger, als ich gedacht hätte. Ich bin auf große Empfindlichkeiten und schmerzliche Missverständnisse auf allen Seiten der Selbstwertfalle gestoßen. Ers tens möchte niemand die Schuld zugeschoben bekommen, und alle fürchten, genau das würde geschehen. Eltern möchten nicht hören, dass ein Kind, das sie lieben,
infolge ihrer Erziehung unglücklich ist. Zweitens sind sich Eltern und erwachsene Kinder uneins darüber, inwieweit es heutzutage schwieriger ist, erwachsen zu werden als früher. Drittens beginnen wir erst jetzt zu verstehen, wie lange (bis Mitte zwanzig) der Reifungsprozess des menschlichen Gehirns dauert und wie lange junge Menschen demzufolge zur Meisterung jener Fähigkeiten brauchen, die notwendig sind, um autonom zu sein - um vernünftige Entscheidungen für ihr Leben treffen zu können. Weit über die Jahre der frühen Kindheit hinaus entwickeln Teenager und junge Erwach sene immer noch ihre Identität und Werte, wenn man die Entwicklung schon lange für abgeschlossen halten könnte. 6 Und schließlich stellt jeder beim Thema des Ichs die Stacheln auf. Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich gelernt, ein Gespräch darüber bei Dinner partys zu vermeiden. Schon die bloße Erwähnung schien Menschen unangenehm zu berühren. Es ist, als würden wir alle fürchten, in die Selbstwertfalle zu gehen - leicht reizbar und allzu egoistisch zu sein. All dies machte deutlich, dass ich bei der Behandlung des Problems den richtigen Ton treffen musste. Ich habe viel Suchen, Mühen und Nachdenken darauf verwendet, und sicherlich ist es mir nicht immer gelungen.
    Sollte ich Sie also bisweilen kränken, verzeihen Sie mir bitte. Ich möchte ehrlich aussprechen, was mir als Fachfrau und Mensch auffällt. Als Mutter und Großmutter, die ich selber bin, habe ich tiefes Mitgefühl mit dem Leiden aller Beteiligten bei diesem Problem. Aber das Risiko ist groß, wenn wir über das Selbst sprechen.
    Kurz nachdem ich zu schreiben begann, wurde mir klar, dass ich es mit einem umfassenden Phänomen unserer Kultur zu tun hatte, nicht nur mit einem psychologischen
Problem oder einer Schwierigkeit, die nur bestimmte Erziehungsstile oder Familien betraf. Als Mutter und Erzieherin begann ich irgendwann in den 1980er-Jahren einen Wandel in den gesellschaftlichen Idealen für unsere Kinder wahrzunehmen, aber ich war mir damals nicht sicher, womit ich es zu tun hatte. Ich fragte mich, ob die Rastlosigkeit, die Egozentrik und der Zynismus, die mir bei Jugendlichen und Kindern auffielen, daher kamen, dass die »traditionelle« Erziehung, mit der ich aufgewachsen war, im Verschwinden begriffen war - eine Erziehung, in der die Grenzen zwischen den Generationen klar gezogen wurden und es immer ein Machtgefälle gab. Viele meiner Kollegen (Experten in klinischer Psychologie) behaupteten, diese Veränderungen seien eher das Resultat eines »Aufmerksamkeitsdefizits«: Junge Leute könnten nicht mehr still sitzen und den Vorgängen in ihrer Umgebung Aufmerksamkeit schenken, weil sie auf immer kürzere Aufmerksamkeitsspannen konditioniert seien. 7 Wo ich einen Mangel an Manieren und Respekt für Ältere sah, sahen andere eine biologische Störung oder die weit verbreiteten Wirkungen von Fernsehen, Computerspielen, Popmusik und anderen Aspekten der Jugendkultur. Ich war meiner Sache nicht sicher.
    Zu meiner Freude bin ich unlängst auf eine maßgebliche Forschungsarbeit gestoßen, die von der Psychologin Jean M. Twenge stammt und für eine willkommene Klarheit sorgt. Ihre Studie zeigt schlüssig, dass ein epochaler kultureller Wandel in dem stattgefunden hat, was wir unseren Kindern beibringen und von ihnen erwarten. Die Menschen, die zwischen den frühen 1970ern und den ersten Jahren des neuen Jahrtausends zur Welt gekommen sind - heutige Erwachsene in ihren
Dreißigern bis hin zu Grundschulkindern und Kleinkin dern -, wurden sämtlich von diesem Wandel geprägt. In ihrem Fazit aus einer umfassenden Mehrgenerationen-Untersuchung von 1,3 Millionen Amerikanern sagt Twenge: »Geboren, nachdem Selbstbezogenheit zu einem Bestandteil des kulturellen Mainstreams wurde, hat diese Generation nie eine Welt kennengelernt, in der Pflichterfüllung Vorrang vor dem Ich hatte.« 8 Sie tauft diese Generation »Generation Ich«. Ich werde ihren Begriff - »Generation Ich« - im gesamten Buch verwenden und wie Twenge darunter jene Altersgruppen zusammenfassen, die gewöhnlich als »Generation X« (Menschen, die in den späten
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