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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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zu halten, aber sie ist wahrhaft eine Errungenschaft. Normalität gründet auf Weisheit, was die Grundbedingung menschlicher Existenz angeht, und auf der Erkenntnis, dass wir alle miteinander verbunden sind und uns gegenseitig brauchen. Unser Leben auf die Wichtigkeit des Normalseins zu gründen - als Mitglied einer Gruppe ebenso wie als ihr Anführer, als abhängiger Teil ebenso wie als einer, von dem andere abhängen, und als Mensch, der mitfühlend mit den Anforderungen umgeht, die das Leben an uns alle stellt - ist ein ganz neuer Ansatz zu Selbstvertrauen.

KAPITEL 1
    Das Problem des Besondersseins
    Adrienne ist eine große, schlanke, modische und attraktive 33-Jährige, eine erfolgreiche psychiatrische Assistenzärztin, die höchstwahrscheinlich einmal eine exzellente Psychiaterin werden wird. Obwohl sie (kinderlos) geschieden ist, hat es von außen den Anschein, als habe sie ihr Leben im Griff. Gleichaltrige und Kollegen schauen zu ihr auf. Sie hat ihre beruflichen Ziele erreicht, präsentiert sich gut und pflegt einen sehr sportlichen Lebensstil, zu dem Radfahren, Wandern und Yoga gehören. Sie lebt in einem kleinen, komfortablen Haus mit ihrem Hund und zwei Katzen in einem schönen Viertel im Norden Chicagos. Von außen würde man vermuten, dass Adrienne selbstsicher und relativ glücklich ist (abgesehen vielleicht von der Scheidung).
    Doch dem ist nicht so. Trotz ihrer beeindruckenden Leistungen wird Adrienne von negativen Selbstwert gefühlen beherrscht und hat Angst, allein zu sein. Seit ihrer Scheidung unterstützen ihre Eltern sie finanziell. Sie wolle nicht wirklich erwachsen werden, sagt sie, und sei sich unsicher, in welche Richtung ihr Leben gehen soll. »Ich frage mich, wie ich mit der Welt da drau ßen umgehen soll, wenn ich keine Zensuren mehr bekomme?«
    Gute Zensuren waren ein wichtiger Bestandteil von Adriennes Kindheit. Wie viele leistungsstarke junge
Frauen wuchs sie in einer Familie der höheren Mittelschicht auf und besuchte gute Schulen. Sie war intelligent, hübsch und gesund. Ihre Eltern sagten ihr wiederholt, sie könne alles tun, was sie wolle, und solle sich hohe Ziele stecken, denn sie sei so begabt und vielversprechend.
    Das einzige größere Problem, mit dem Adrienne konfrontiert war, als sie noch zu Hause bei ihren Eltern wohnte, war eine Essstörung, die im Sommer nach der achten Klasse einsetzte. Adrienne weiß von den Anfängen nur noch, dass sie von einem Feriencamp nach Hause kam, wo es ihr so gut gegangen war wie noch nie, und ihre Mutter sagte: »Mir scheint, dass du ein bisschen zugenommen hast.« Adrienne betrachtete ihre Hüften im Spiegel und fand sich zu dick. »Das war mir äußerst peinlich. Ich weiß noch, wie ich mir die anderen Mädchen anschaute und Vergleiche anstellte, und dann fing ich eine Diät an. Sie war extrem. Sie bestand hauptsächlich aus Training und Wettkampfschwimmen. Ich hatte damals schon ungefähr meine volle Körpergröße von 1,78 Meter erreicht und nahm rasch von 125 auf 103 Pfund ab.«
    Adriennes Eltern bestanden darauf, dass sie einen Psychiater aufsuchte und alle seine Ratschläge und Anweisungen befolgte. Obwohl sich Adrienne sehr gegen eine Einmischung in die Art, wie sie aß und Sport trieb, wehrte, kooperierte sie zumindest oberflächlich mit dem Therapeuten. Sie wechselte auf eine gute private Highschool, in der ihre Mutter Lehrerin war, schnitt gut ab, und wurde dann an genau dem Elite-College angenommen, das sie am liebsten besuchen wollte. Im College hatte sie gute Zensuren und ein gutes Sozialleben. All diese Erfolge gipfelten darin, dass sie
an der medizinischen Hochschule ihrer Wahl angenommen wurde.
    Adrienne hat viel von dem erfüllt, was sich Eltern aus der Mittelschicht oder mittleren Oberschicht für ihre Kinder erträumen. Sie war schulisch erfolgreich, studierte an einem Elite-College und an einer Elite-Universität, hat eine gut bezahlte und interessante Karriere vor sich und viele gute Freunde. Und dennoch ist Adrienne weit davon entfernt, mit ihrem Leben glücklich oder zufrieden zu sein. Wenn sie an ihre Erwartungen als Jugendliche zurückdenkt, scheint sie ein bisschen erstaunt. »Meine Erwartungen waren so etwas wie Fantasien. Vielleicht nicht einmal Fantasien, denn für eine Fantasie braucht man irgendeine Vorstellung oder ein Bild. Ich dachte einfach, dass bei mir schon alles gut laufen würde. Als ich in den letzten Jahren erkannte, dass meine Ehe nicht funktionierte, bin ich einfach ausgeflippt. Fehlschläge
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