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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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ich bereits erwähnt habe, die Leitsymptome der Selbstwertfalle. Schon bei ganz kleinen Kindern kann man die Anfänge dieser Symptome beobachten - beispielsweise wenn ein Kind nicht imstande zu sein scheint, seine eigenen Bedürfnisse zugunsten der dringlicheren Bedürfnisse eines anderen zurückzustellen, wie es Marie von ihrem heranwachsenden Sohn schilderte. In ihrer unproblematischsten Form führt die Selbstwertfalle zu unglücklichen Erwachsenen, die sich unvollkommen fühlen, weil sie nicht in der Lage sind, das zu erreichen oder zu sein, was sie sich vorgestellt haben. Im schlimmsten Fall, wenn man in der Kindheit und den jungen Erwachsenenjahren nichts dagegen tut und sie von anderen sozialen Umständen verstärkt wird, kann sie zu chronischen Störungen wie Depression, Narzissmus und Sucht führen. 1
    Jason, ein junger Mann Anfang 20, kam zu mir in die Therapie, weil er das ausgeprägte Gefühl hatte, an deren überlegen zu sein. Dieses Gefühl behagte ihm nicht. Er wusste nicht, woher es kam, aber es machte ihm im Kontakt mit anderen zu schaffen. Wenn Jason neue Leute traf, war er zunächst begeistert und an ihnen interessiert. Aber schon nach etwa einem Monat stellte er fest, dass er sie kritisch beurteilte. Rasch und hämisch erkannte er ihre Mängel und Schwächen.
Schließlich fühlte er sich denen, die ihn anfangs fasziniert hatten, überlegen und betrachtete sich selbst als besser oder fähiger als sie. Fast immer empfand er den Druck, erfolgreich zu sein und andere zu überflügeln. In der Anwesenheit derjenigen, die er insgeheim kritisierte, fühlte er sich unwohl und empfand Desinteresse, dennoch schämte er sich seiner ständigen Urteile. Dieses ganze Gedanken- und Gefühlsspektrum machte ihm auf vielen verschiedenen Ebenen schrecklich zu schaffen.
    Jason steckt in der Selbstwertfalle. Das besondere Selbst fordert von dem, der es pflegt, dass er außergewöhnlichen Maßstäben gerecht wird, dass er versucht, jeden Wettbewerb zu gewinnen, und dass er eine konkrete oder vage Größenfantasie im Hinblick auf das Selbst und sein Leben verwirklicht. Wie dieser junge Mann spürte, wird diese Identität zu einem Gefängnis, einer ewigen Falle, aus der es nach Ansicht des Betreffenden keine Befreiung und Rettung gibt. Wer könnte einen schließlich auch retten, wenn man besser als alle anderen ist? Das besondere Selbst ist ein einsamer und Furcht erregender Aufenthaltsort.
    Der bedrohlichste Aspekt, wenn man diese Art Selbstgefühl kultiviert, besteht darin, dass es sehr schnell in Gefühle von Blamage und Scham umschlägt. Wenn es dem Betreffenden, und sei es auch nur einen Augenblick lang, nicht gelingt, den Ansprüchen dieses Selbst - der Beste, Schlankste, Klügste, Witzigste und Erfolgreichste zu sein - gerecht zu werden, fällt er in eine Art schwarzes Loch, in die Dunkelheit, von der Adrienne sprach. Innerlich fühlt es sich für den Betreffenden an, als würde sich der Boden unter ihm auftun und er in einen Abgrund stürzen, in dem er allein und ohne Hilfe
ist. Je höher der Sockel, die Leistung oder die Fantasie, desto härter der Fall.
    Am beängstigendsten ist das Gefühl, allein zu sein, das von dem Unvermögen herrührt, an irgendeinen verlässlichen Zusammenhalt zu glauben, eine Gruppe oder Gemeinschaft, die das Selbst trägt. Diese umfassende Einsamkeit macht es schwer, sich in andere hi neinzuversetzen (außer in enge Freunde, die die gleichen Probleme und Ansichten haben), und fördert eine negative Fixierung auf das Selbst. Obwohl das besondere Selbst jedem, der darunter leidet, definitionsgemäß wie ein persönliches Problem erscheint, ist es unter der heutigen Jugend paradoxerweise weit verbreitet.
    Wenn ich Menschen wie Adrienne und Jason in der Therapie zuhöre, fällt mir sofort auf, wie unrealistisch ihre Erwartungen sind. Da sie sich von frühester Kindheit an für ungewöhnlich, wenn nicht gar für außergewöhnlich gehalten haben, akzeptieren sie ältere Men schen oft nicht als Rollenmodell. Sie weisen auch die Hinweise oder Fingerzeige zurück, die ihnen signalisieren, dass sie in ihrem Beruf oder ihrer Elternrolle erst am Anfang stehen, dass alle Leistungen einen Prozess beinhalten und sie noch einen weiten Weg vor sich haben, bevor sie Experten sind. 2 Anfänger sein fühlt sich blamabel an. Normal sein reicht nicht. Und diese Weigerung, sich als normal, mit Mängeln behaftet und alles andere als perfekt zu betrachten, kann darauf zurückgeführt werden, wie sie aufgezogen
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