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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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60ern und den 70ern geboren sind), »Generation Y« (in den 80er- und 90er-Jahren Geborene) und »Generation Millennium« (im neuen Jahrtausend Geborene) bezeichnet werden. 9 Sie weist nach, dass diese sehr unterschiedlichen Altersgruppen von einer zentralen Ideologie geprägt sind.
    Kinder der Generation Ich haben vor allem zu hören bekommen, dass sie einzigartige Individuen sind und Begabungen und Stärken besitzen, die nur ihnen eigen sind: Sie sind »besonders«. Menschen ihrer Generation haben oft den Eindruck, dass die »Chancen«, die ihnen angeblich offenstehen, in Wirklichkeit Forderungen sind, außergewöhnlich kreativ und erfolgreich zu sein. Während es bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein haben kann, dass größere Chancen und Vorteile sich automatisch in höherem Selbstvertrauen und grö ßerer Autonomie niederschlagen müssten, erweist sich traurigerweise oft das Gegenteil als wahr. Problematisch an der Besonderheit ist, dass sie ein Steckenbleiben in der Selbstwertfalle fördert: eine übermäßige Befangenheit, Isolation und erbarmungslose Selbstkritik.
Die beunruhigendsten Auswirkungen dieser Falle sind das Auftreten von Depression und Ängstlichkeit, wenn man nicht imstande ist, »den eigenen Traum zu leben«.
    Was heißt es eigentlich, besonders zu sein oder sich besonders zu fühlen? Ganz wörtlich bedeutet der Begriff »außergewöhnlich«, »hervorragend«, »den Durchschnitt weit übertreffend«. »Besonders« wird oft mit seinem Pendant »einzigartig« verwechselt. »Einzig artig« bedeutet, wie der Name schon sagt, »einzig in seiner Art«. Man kann daher gar nicht sagen, jemand sei einzigartiger als jemand anders, denn etwas, was einzig in seiner Art ist, kann man nicht mit etwas anderem vergleichen. Wenn jeder einzigartig ist, ist das das Ende der Geschichte: Einzigartigkeit wird zum Nor malfall. Aber die Aussage: »Du bist so besonders!«, be inhaltet, dass jemand herausragt und sich vom Durchschnitt abhebt. In einer Gesellschaft wie der unseren, die Individualität und Konkurrenz bereits betont, kann das Etikett »besonders« eine Zentnerlast auf unseren Schultern sein, ein unnötiges Extragewicht.
    Als ich in den 1980ern zum ersten Mal den Wandel in unserem gesellschaftlichen Befinden wahrnahm, las ich eine wegweisende Studie, die ich beim Schreiben dieses Buches gedanklich im Hinterkopf hatte. Sie erschien 1985 unter dem Titel Habits of the Heart: Individualism and Commitment in American Life (»Gewohnheiten des Herzens: Individualismus und Engagement im amerikanischen Leben«). Als breit angelegte soziologische Analyse mit Beiträgen vieler Autoren mahnte Habits of the Heart , dass wir mit unserer starken Betonung des Individualismus in die Irre gehen könnten:
    Wir finden nicht unabhängig von anderen Menschen und Institutionen zu uns selbst, sondern nur durch sie. Wir gelangen niemals eigenständig auf den Grund unserer selbst. Wir entdecken, wer wir sind, von Angesicht zu Angesicht und Seite an Seite mit anderen Menschen, während wir arbeiten, lieben und lernen. Unsere gesamte Aktivität findet in Beziehungen, Gruppen, Verbänden und Gemeinschaften statt, geregelt durch institutionelle Strukturen und interpretiert mithilfe von gesellschaftlichen Sinnmustern. Unser Individualismus selbst ist ein solches Muster. 10
    Diese Studie zeigt, dass viele Wissenschaftler bereits in den 1980ern angestrengt über das Problem des be sonderen Selbst nachdachten, zu einer Zeit, als Eltern und Erzieher es noch bei Kindern förderten. Statt unseren Kindern Gemeinsinn beizubringen, lehrten wir sie, sich auf ihre eigenen Leistungen und Erfolgserwartungen zu konzentrieren. Wir haben uns endlose Sorgen um ihren Selbstwert und ihre Selbstachtung gemacht. Warum?
    Dieses Buch liefert die bestmögliche Antwort, die ich geben kann. Ich gebe sie im Geiste des Dialogs mit meinen Lesern. Ich glaube, ich kenne das Leiden heutiger Eltern und junger Leute bereits, und ich möchte nicht zu jemandes Elend beitragen. Ein Einstellungswandel ist meiner Meinung nach der Schlüssel, um uns aus der Selbstwertfalle zu befreien und die Bürde des besonderen Selbst fallen zu lassen. Ohne uns oder andere zu beschuldigen, sollten wir der Tatsache ins Auge blicken, dass wir uns alle zusammen in diesem zementierten Denken verfangen haben. Das Problem des besonderen Selbst ist nicht die Schuld einzelner
Eltern, Kinder, Heranwachsender oder Erwachsener. Es ist ein Fehler, den eine ganze Generation unwissentlich und aus
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