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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Autoren: Italo Calvino
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Weshalb ich jeden Schritt sehr genau kalkulieren muß, um ein Höchstmaß an Löschung mit einem Mindestmaß an erneuter Komplikation zu erreichen.
    Ein Mann, den ich nicht kenne, sollte mich gleich nach meiner Ankunft hier treffen, wenn nicht alles schiefgegangen wäre. Ein Mann mit einem Rollenkoffer, äußerlich gleich dem meinen, aber leer. Die beiden Koffer wären zusammengestoßen im Gedränge der Reisenden auf dem Bahnsteig, zwischen zwei Zügen. Scheinbar eine Zufallsbegegnung, nicht zu unterscheiden von einer, die sich durch Zufall ergibt. Aber da wäre ein Kennwort gewesen, das der Mann mir gesagt hätte, eine beiläufige Bemerkung über die Schlagzeile auf der Zeitung, die aus meiner Tasche ragt, betreffend den Ausgang des Pferderennens am letzten Sonntag: »Ach, Zenon von Elea hat gesiegt!« Wir hätten unsere Koffer einen Augenblick abgestellt und die Metallgriffe einklappen lassen, vielleicht noch ein paar Worte gewechselt über Pferde, Prognosen, Wetten, und wären dann auseinandergegangen zu verschiedenen Zügen, jeder mit seinem Koffer. Niemand hätte etwas gemerkt, aber ich hätte den Koffer des anderen, und er wäre mit dem meinen davongefahren.
    Ein perfekter Plan, so perfekt, daß eine nichtige Komplikation genügte, um ihn platzen zu lassen. Nun stehe ich hier, ohne zu wissen, was ich hier soll, als letzter noch wartender Reisender auf diesem Bahnhof, wo kein Zug mehr abfährt oder ankommt bis morgen früh. Es ist die Stunde, da sich die kleine Provinzstadt in ihr Gehäuse zurückzieht. Im Bahnhofscafe sind nur noch Einheimische, die einander allesamt kennen, Leute, die mit dem Bahnhof nichts weiter zu tun haben, aber dennoch herübergekommen sind über den dunklen Platz, vielleicht weil kein anderes Lokal mehr offen hat in dieser Gegend, vielleicht auch wegen der Attraktion, die Bahnhöfe in Provinzstädten immer noch haben (die Handvoll Neuigkeiten, die man dort zu erfahren hofft), vielleicht auch bloß aus alter Gewohnheit, im Gedenken an jene Zeit, als der Bahnhof noch der einzige Berührungspunkt mit der übrigen Welt war.
    Vergeblich sage ich mir: Provinzstädte gibt es nicht mehr, vielleicht hat es niemals welche gegeben, denn alle Orte kommunizieren direkt miteinander, und ein Gefühl der Einsamkeit hat man nur auf der Fahrt von einem Ort zum anderen, wenn man an keinem Ort, nirgends ist. Praktisch fühle ich mich hier weder in einem Hier noch in einem Woanders, als Fremder erkennbar für die Nichtfremden mindestens in dem Maße, wie ich die Nichtfremden hier erkenne und beneide. Jawohl, beneide. Ich sehe von außen auf das Leben eines gewöhnlichen Abends in einer gewöhnlichen Kleinstadt und mache mir klar, daß ich von solchen gewöhnlichen Abenden für wer weiß wie lange abgeschnitten bin; ich denke an Tausende von kleinen Städten wie diese, an Hunderttausende von mehr oder minder hellen Lokalen, in denen Menschen um diese Zeit das Dunkel der Nacht hereinbrechen lassen, und keiner von ihnen hat meine Sorgen; womöglich haben sie andere, die ganz und gar nicht beneidenswert sind, doch in diesem Augenblick würde ich gern mit jedem von ihnen tauschen. Zum Beispiel mit einem von diesen jungen Männern, die einen Rundgang durch die Kneipen machen, um von den Besitzern Unterschriften zu sammeln für eine Eingabe an die Gemeinde betreffend die Steuer für Leuchtreklamen, und die jetzt gerade dem Wirt ihren Text vorlesen.
    Der Roman gibt an dieser Stelle Gesprächsfetzen wieder, die anscheinend nur dazu dienen, das Alltagsleben einer Provinzstadt zu charakterisieren. »Und du, Armida, hast du schon unterschrieben?« fragen sie eine Frau, die ich nur von hinten sehe, ein Gürtel hängt von einem langen pelzgesäumten Mantel mit hohem Kragen herab, dünner Rauch steigt auf von den Fingern, die den Stiel eines Glases halten. »Wer hat denn gesagt, daß ich eine Leuchtschrift anbringen will über meinem Laden?« antwortet sie. »Wenn die Gemeinde an der Straßenbeleuchtung sparen will, werd ich die Straßen doch nicht auf meine Kosten beleuchten! Weiß doch sowieso jeder, wo das Lederwarengeschäft Armida ist! Und wenn ich den Rolladen runterlasse, bleibt's eben draußen dunkel und Feierabend!«
    »Grad deswegen solltest du auch unterschreiben«, sagt einer zu ihr. Er duzt sie, alle duzen sich hier. Sie reden teilweise im Dialekt, es sind Menschen, die sich jeden Tag sehen seit wer weiß wie vielen Jahren, jedes Gespräch, das sie miteinander führen, ist nur die Fortsetzung früherer
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