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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Autoren: Italo Calvino
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Gespräche. Sie frotzeln sich an, auch deftig: »Gib's doch zu, die Dunkelheit ist dir grad recht, damit keiner sieht, wer dich abends besuchen kommt! Wen läßt du denn durch die Hintertür rein, wenn du vorn den Rolladen zumachst?«
    Die Reden und Rufe bilden ein unverständliches Stimmengewirr, aus dem allerdings auch einzelne Worte oder Sätze auftauchen können, die für den Fortgang der Handlung entscheidend sind. Um richtig zu lesen, mußt du den Faktor Stimmengewirr ebenso registrieren wie den Faktor verborgene Absicht, den du freilich noch nicht erfassen kannst (ich auch nicht). Also mußt du beim Lesen zugleich zerstreut und höchst aufmerksam sein, genau wie ich, der ich jetzt gedankenverloren die Ohren spitze, den Ellbogen auf den Tresen gestützt und die Wange in die geballte Faust. Und wenn der Roman jetzt allmählich aus seiner diesigen Ungewißheit heraustritt, um ein paar Einzelheiten über das Äußere der Personen mitzuteilen, will er dir das Gefühl von Gesichtern vermitteln, die du zum erstenmal siehst, aber doch schon tausendmal gesehen zu haben meinst. Wir befinden uns in einer Stadt, auf deren Straßen man immer denselben Leuten begegnet; die Gesichter tragen die Last einer Gewohnheit, die sich auch dem mitteilt, der wie ich noch nie hier gewesen ist, aber gleichwohl erkennt, daß es die altgewohnten Gesichter sind, Züge, die der Spiegel hinter dem Tresen anschwellen und erschlaffen sah, Mienen, die hier Abend für Abend zerfielen oder glasig wurden. Diese Frau war vielleicht einmal die Stadtschönheit; auch jetzt noch, da ich sie zum erstenmal sehe, scheint mir, daß man von einer attraktiven Frau sprechen kann; aber sobald ich versuche, sie mit den Augen der anderen Gäste zu sehen, legt sich bereits eine leichte Müdigkeit über sie, vielleicht nur ein Schatten der Müdigkeit dieser anderen (oder der meinen oder der deinen). Die Leute hier kannten sie schon als junges Mädchen, sie wissen alles über sie, mancher von ihnen hat vielleicht eine Geschichte mit ihr gehabt - längst vergessen, aus und vorbei. Kurzum, es gibt einen Schleier von anderen Bildern, der sich über ihr Bild legt und es verschwimmen läßt, eine Last von Erinnerungen, die mich hindern, sie wie zum ersten Male zu sehen, Erinnerungen anderer, die in der Luft hängen wie der Rauch unter den Lampen.
    Beliebtester Zeitvertreib der Leute hier scheint das Wetten zu sein, ständig wetten sie auf die kleinen Ereignisse ihres Alltagslebens. Zum Beispiel sagt einer: »Wollen wir wetten, wer heut abend zuerst hier reinkommt: Doktor Marne oder Kommissar Gorin?« Darauf ein anderer: »Ja, und was Doktor Marne dann tut, um seiner Ex-Frau nicht zu begegnen: ob er Flipper spielt oder einen Totoschein ausfüllt.«
    Bei einer Existenz wie der meinen kann man keine Prognosen machen. Ich weiß nie, was mir in der nächsten halben Stunde zustoßen kann, für mich ist so etwas unvorstellbar: ein Leben aus lauter winzigen wohldefinierten Alternativen, auf die man Wetten eingehen kann: entweder so oder so.
    »Ich weiß nicht«, sage ich leise.
    »Was wissen Sie nicht?« fragt sie.
    Mir scheint, ich kann's ruhig sagen, ich brauche den Gedanken nicht für mich zu behalten, wie ich es sonst mit meinen Gedanken tue; ich kann's der Frau ruhig sagen, die neben mir am Tresen steht, der Inhaberin des Lederwarengeschäfts, mit der ich schon seit einiger Zeit ins Gespräch kommen möchte: »So geht's hier bei Ihnen, oder?«
    »Nein, das stimmt nicht«, antwortet sie, und ich wußte, daß sie so antworten würde. Nichts sei vorhersehbar, sagt sie, weder hier noch woanders; sicher, jeden Abend um diese Zeit schließe der Doktor Marne seine Praxis und beende auch Kommissar Gorin seinen Dienst im Polizeikommissariat, und anschließend kämen dann beide hier immer vorbei, mal erst der eine, mal erst der andere, aber was besage das schon?
    »Immerhin scheint hier niemand daran zu zweifeln, daß der Doktor versuchen wird, seiner Ex-Frau aus dem Weg zu gehen«, sage ich.
    »Seine Ex-Frau bin ich«, antwortet sie. »Hören Sie nicht auf die Geschichten, die man sich hier erzählt.«
    Deine Aufmerksamkeit als Leser ist jetzt ganz auf die Frau konzentriert, seit einigen Seiten streichst du schon um sie herum, streiche ich, nein, streicht der Autor um diese Frauenfigur herum, seit einigen Seiten erwartest du, daß diese Frauenerscheinung Gestalt annimmt, so wie Frauenerscheinungen auf den Seiten von Büchern Gestalt annehmen, und es ist deine Lesererwartung, die
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