Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Autoren: Italo Calvino
Vom Netzwerk:
Zeit, daß dir klar gesagt wird, ob dieser Bahnhof, an dem ich ausgestiegen bin aus einem verspäteten Zug, ein Bahnhof von früher ist oder von heute; doch die Sätze bewegen sich weiter im Ungewissen, im Grau, in einer Art Niemandsland der auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verkürzten Erfahrung. Paß auf, das ist bestimmt ein Trick, um dich langsam einzufangen, dich in die Handlung hineinzuziehen, ohne daß du es merkst: eine Falle. Oder vielleicht ist der Autor noch unentschlossen, wie ja auch du als Leser noch nicht ganz sicher bist, was du lieber hier lesen würdest: die Ankunft auf einem alten Bahnhof, die dir das Gefühl einer Rückkehr in die Vergangenheit, einer Rückeroberung der verlorenen Zeiten und Orte gibt, oder ein Fluten von Lichtern und Tönen, das dir das Gefühl gibt, in der heutigen Zeit zu leben, in der Art und Weise, wie man heutzutage das Leben für angenehm hält. Dieses Cafe (oder »Bahnhofsrestaurant«, wie es auch genannt wird) scheint vielleicht nur meinen kurzsichtigen oder gereizten Augen so verschwommen und diesig, in Wahrheit strömt womöglich gleißendes Licht aus blitzenden Röhren, vervielfacht durch Spiegel, die es in alle Winkel und Ritzen werfen, und der schattenlose Raum erdröhnt von voll aufgedrehter Musik aus einem vibrierenden Lärmapparat, und alle Flipper und anderen elektronischen Spiele zur Simulation von Pferderennen und Menschenjagden sind in Betrieb, und farbige Schatten schwimmen im milchigen Glas eines Fernsehers wie auch in dem eines großen Aquariums voller tropischer Fische, die sich laben an einem senkrechten Strom von leise blubbernden Luftbläschen. Und ich trage nicht eine pralle, leicht verschlissene Reisetasche unter dem Arm, sondern schiebe einen quadratischen, mit kleinen Rädern versehenen Hartplastikkoffer vor mir her an einem ausklappbaren verchromten Metallgriff.
    Du meintest, Leser, dort unter dem Bahnsteigdach habe mein Blick sich auf die hellebardengleich durchbrochenen Zeiger einer runden alten Bahnhofsuhr konzentriert im vergeblichen Wunsch, sie zurückzudrehen, um rückwärts den Friedhof der verflossenen Stunden zu durchlaufen, die entseelt darniederliegen in ihrem kreisrunden Pantheon. Doch wer sagt dir, daß die Ziffern der Uhr nicht in rechteckigen Fenstern aufscheinen und nicht jede Minute über mich herfällt wie das Fallbeil einer Guillotine? Freilich, am Ergebnis würde sich nicht viel ändern: Auch in einer glatten und komfortabel gemachten Welt verriete mein um das leichte Steuer des Rollenkoffers gekrampfter Griff noch immer einen inneren Widerwillen, als sei dieses doch so bequeme Gepäckstück für mich eine unangenehme, ja bedrückende Last.
    Irgendwas muß mir in die Quere gekommen sein: eine falsche Auskunft, eine Verspätung, ein verpaßter Anschluß. Vielleicht hätte ich hier auf dem Bahnhof jemanden treffen sollen; vermutlich im Zusammenhang mit diesem Koffer, der mich so zu bedrücken scheint, wobei unklar ist, ob aus Angst, ihn zu verlieren, oder weil ich's kaum erwarten kann, ihn loszuwerden. Sicher scheint jedenfalls, daß er kein x-beliebiger Koffer ist, den man in der Gepäckaufbewahrung abgeben oder einfach wie aus Versehen im Wartesaal stehenlassen kann. Vergeblich schaue ich auf die Uhr; falls jemand da war, um mich zu treffen, ist er längst wieder weg. Vergeblich zerquäle ich mir das Hirn mit der Wahnidee, Uhren und Kalender zurückzudrehen, bis der Augenblick wiederkehrt, bevor geschah, was nicht hätte geschehen dürfen. Wenn ich auf diesem Bahnhof jemanden treffen sollte, der womöglich gar nichts mit diesem Bahnhof zu tun hätte, sondern bloß hier aussteigen sollte, um mit dem nächsten Zug weiterzufahren, was auch ich hätte tun sollen, nachdem wir einander etwas übergeben hätten - ich zum Beispiel dem anderen diesen Rollenkoffer, den ich indessen noch habe und der mir so in den Händen brennt -, dann kann ich jetzt nur versuchen, den verfehlten Kontakt wiederherzustellen.
    Schon mehrmals habe ich das Cafe durchquert und durch die Außentür auf den dunklen Vorplatz gespäht, und jedesmal hat mich die Mauer der Finsternis wieder zurückgestoßen in diesen hellen Limbus zwischen den beiden Dunkelheiten der Gleisbündel und der nebligen Stadt. Soll ich hinausgehen, um dann nicht zu wissen, wohin? Die Stadt da draußen hat noch keinen Namen, wir wissen nicht, ob sie außerhalb des Romans bleiben wird oder ihn bereits ganz in ihrer Tintenschwärze enthält. Ich weiß nur, daß dieses erste Kapitel noch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher