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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Autoren: Italo Calvino
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zögert, sich vom Bahnhof und vom Cafe zu lösen; es wäre unklug, mich von hier zu entfernen, wo man mich immerhin suchen könnte, auch mich vor noch mehr Leuten sehen zu lassen mit diesem sperrigen Koffer. Also füttere ich weiter Münzen in das öffentliche Telefon, das sie mir jedesmal wieder ausspuckt. Viele Münzen, wie für ein Ferngespräch; wer weiß, wo sich jetzt diejenigen befinden, von denen ich Instruktionen erhalten, sagen wir ruhig Befehle empfangen soll; denn es ist klar, ich bin von anderen abhängig, ich sehe nicht aus wie einer, der aus Privatgründen reist oder Geschäfte auf eigene Rechnung betreibt, man würde mich eher für einen subalternen Vertreter halten, ein Steinchen in einem hochkomplizierten Spiel, ein kleines Rädchen in einem großen Getriebe, so klein, daß man mich eigentlich gar nicht wahrnehmen dürfte. Tatsächlich war festgelegt worden, daß ich hier durchkommen sollte, ohne Spuren zu hinterlassen. Dabei hinterlasse ich dauernd Spuren: Ich hinterlasse Spuren, wenn ich mit niemandem rede, da ich mich dann als einer bemerkbar mache, der seinen Mund nicht auf tun will; ich hinterlasse Spuren, wenn ich mit jemandem rede, da jedes ausgesprochene Wort ein bleibendes Wort ist, das später zurückkommen kann, mit oder ohne Anführungszeichen. Vielleicht häuft der Autor deshalb Vermutungen auf Vermutungen in langen Absätzen ohne jeglichen Dialog, eine trübe, bleierne Dichte, in der ich unbemerkt bleiben kann und verschwinden.
    Ich bin einer, der überhaupt nicht auffällt, eine anonyme Person vor einem noch anonymeren Hintergrund, und wenn du, Leser, trotzdem nicht anders konntest, als mich zu bemerken unter den Leuten, die hier den Zug verließen, und mir auch weiter gefolgt bist bei meinem Hin und Her zwischen Cafe und Telefon, so nur, weil ich hier »ich« genannt werde und dies das einzige ist, was du von mir weißt. Aber das genügt dir schon, um dich genötigt zu fühlen, einen Teil deiner selbst in dieses unbekannte Ich zu investieren. So wie auch der Autor, obwohl er hier keineswegs über sich selbst sprechen will, obwohl er sich nur entschieden hat, die Romanperson »ich« zu nennen, um sie gleichsam dem Blick zu entziehen, um sie nicht benennen oder beschreiben zu müssen, denn jede andere Benennung oder Charakterisierung hätte sie näher bezeichnet als dieses nackte Pronomen - so wie auch der Autor sich dennoch gedrängt fühlt, sei's auch nur durch die Tatsache, daß er hier »ich« schreibt, in dieses Ich etwas von sich selbst zu legen, etwas von dem, was er fühlt oder zu fühlen glaubt. Nichts ist leichter, als sich mit mir zu identifizieren: Bisher ist mein Verhalten das eines Reisenden, der einen Anschluß verpaßt hat, eine Lage, in die jeder schon einmal geraten ist. Doch eine Lage, die sich zu Anfang eines Romans einstellt, verweist stets auf etwas anderes, das schon geschehen ist oder gleich geschehen wird, und genau dieses andere macht es riskant, sich mit mir zu identifizieren, riskant für dich, den Leser, wie auch für den Autor, und je grauer, unbestimmter, beliebiger und allgemeiner dieser Romananfang ist, desto bedrohlicher spürt ihr, du und der Autor, den Schatten einer Gefahr anwachsen über jenem Teil eures »Ich«, den ihr unbedachterweise in das »Ich« einer Romanperson investiert habt, von der ihr nicht wißt, was für eine Geschichte sie mit sich schleppt - wie jenen Koffer, den sie so gerne loswerden möchte.
    Den Koffer loswerden, das müßte die erste Bedingung sein, um die vorherige Lage wiederherzustellen: die Lage vor all dem, was dann geschehen ist. Dies meine ich, wenn ich sage, ich würde gerne die Zeit zurückdrehen: Ich würde die Folgen gewisser Geschehnisse gerne auslöschen, um einen Anfangszustand wiederherzustellen. Doch jeder Augenblick meines Lebens bringt eine Vielzahl neuer Geschehnisse mit sich, und jedes dieser neuen Geschehnisse hat seine Folgen, so daß ich, je heftiger ich bemüht bin, zu jenem Nullpunkt zurückzukehren, von dem ich ausgegangen bin, mich nur desto weiter von ihm entferne. Denn obwohl meine Handlungen allesamt darauf abzielen, die Folgen früherer Handlungen auszulöschen, wobei ich auch schon bemerkenswerte Löschresultate erzielt habe, die mich auf rasche Erleichterung hoffen lassen, muß ich immer bedenken, daß jede meiner Handlungen zur Löschung früherer Geschehnisse eine Fülle neuer Geschehnisse auslöst, die meine Lage noch komplizierter als vorher machen und die ich nun ebenfalls löschen muß.
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