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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Autoren: Italo Calvino
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und dann in Achtel gefaltet wird; beim Zusammenbinden der gefalteten Bogen geraten manchmal zwei gleiche Bogen in einen Band, ein Versehen, das immer wieder mal vorkommt. Du blätterst hastig die folgenden Seiten durch, um Seite 33 zu finden, vorausgesetzt, daß sie existiert; ein verdoppelter Bogen wäre an sich nur ein Schönheitsfehler, schlimm wird die Sache erst, wenn der richtige Bogen fehlt, in ein anderes Exemplar geraten ist, wo er nun vielleicht doppelt vorkommt und dafür der hier verdoppelte fehlt. Wie dem auch sei, du willst jetzt nur weiterlesen, alles andere ist dir egal, du warst an einen Punkt gekommen, wo du keine Seite mehr überschlagen kannst.
    Hier, hier kommt wieder Seite 31, 32. .. Und dann? Nochmal Seite 17, zum drittenmal! Verdammt, was für ein blödes Buch hat man dir da verkauft? Das ganze Ding besteht überhaupt nur aus lauter gleichen Bogen, bis hinten kommt keine einzige richtige Seite mehr!
    Wütend schmeißt du das Buch in die Ecke, du würdest es gern zum Fenster hinausfeuern, auch zum geschlossenen Fenster hinaus, durch die Lamellen der Sonnenblende, so daß sie seine ungehörigen Lagen zerfetzen, so daß die Sätze, Wörter, Morpheme in alle Winde zerstieben, um sich niemals wieder zu sinnvoller Rede zusammenzufügen; durch die Scheiben hinaus, um so besser, wenn's unzerbrechliche sind, so daß es zersprüht zu Photonen, Wellenschwingungen, polarisierten Spektren; durch die Wand mit dem Buch, so daß es zerfällt in Moleküle und in Atome, die zwischen Atom und Atom des Eisenbetons hindurchschlüpfen und sich spalten in Elektronen, Neutronen, Neutrinos, immer winzigere Elementarteilchen; durch die Telefondrähte, so daß es zerfließt in elektrische Ströme, Stöße, Impulse, in einen von Redundanzen und Störgeräuschen zerhackten Informationsfluß, bis es schließlich verkümmert zu wirbelnder Entropie. Du würdest es gern hinausfenstern, aus dem Haus, aus dem Wohnblock, dem Stadtteil, dem städtischen Ballungsgebiet, dem Landkreis, dem Verwaltungsbezirk, dem Regionalraum, der Nationalgemeinschaft, dem Gemeinsamen Markt, dem westlichen Kulturkreis, dem Kontinentalmassiv, der Atmosphäre, der Biosphäre, der Stratosphäre, dem Gravitationsfeld der Erde, dem Sonnensystem, der Galaxie, dem Galaxienhaufen, hinaus bis über den äußersten Punkt, den das expandierende All erreicht hat, dorthin, wo Raum und Zeit noch nicht angekommen sind und wo es aufgehen würde im blanken Nichts, im Nichtsein, ja im Niemalsgewesensein und Nieseinwerden, um sich total zu verlieren in der absolutesten und garantiert unleugbaren Nichtigkeit. Genau das hätte es verdient, nicht mehr und nicht weniger.
    Statt dessen hebst du es auf und klopfst den Staub ab; du mußt es zurückbringen, damit der Buchhändler es dir umtauscht. Sicher, du bist etwas impulsiv, aber du kannst dich schließlich beherrschen. Was dich am meisten in Rage bringt, ist das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem Zufall, dem Unwägbaren, dem bloß zu Vermutenden, sowohl in den Dingen wie im Verhalten der Menschen, die Unachtsamkeit, das Ungefähr, die Schludrigkeit, sowohl bei dir selbst wie bei anderen. In solchen Fällen packt dich die Leidenschaft des ungeduldigen Dranges nach Löschung der Folgen all dieser Willkür oder Zerstreutheit, also nach Wiederherstellung des gewohnten Ganges der Dinge. Du kannst es gar nicht erwarten, ein fehlerloses Exemplar des begonnenen Buches in die Hand zu bekommen; du würdest sofort in die Buchhandlung eilen, wenn die Geschäfte nicht schon geschlossen wären. Du mußt bis morgen warten.
    Du verbringst eine unruhige Nacht, dein Schlaf ist ein unsteter Strom, stockend wie die Lektüre deines Romans, voller Träume, die dir allesamt vorkommen wie Wiederholungen immer desselben Traums. Du kämpfst mit den Träumen wie mit dem sinn- und formlosen Leben, du suchst einen Plan, einen Weg, es muß ja doch einen geben, es ist, wie wenn du ein Buch zu lesen beginnst, ohne bereits zu wissen, in welche Richtung es dich entführen wird. Du wünschst dir, ein abstraktes und absolutes Raum-Zeit-Kontinuum täte sich auf, in welchem du dich auf einer präzisen, vorgezeichneten Bahn bewegen könntest; aber sobald du glaubst, es gelinge dir, merkst du, daß du reglos verharrst, blockiert und gezwungen, wieder von vorn zu beginnen.
    Anderntags eilst du im ersten freien Moment zur Buchhandlung, stürzt hinein, das Buch in der vorgestreckten Hand, aufgeschlagen und mit dem Zeigefinger der anderen vorwurfsvoll auf die
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