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Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter

Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter

Titel: Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
Autoren: Tara Hudson
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zog an seinem langärmeligen Hemd und seiner Jeans, sogar an seinen dunklen Haaren.
    Ich zog und zog, aber natürlich geschah nichts. Meine dummen toten Hände konnten ihn nicht anfassen, konnten ihn nicht retten. Es war wie bei dem Kampf im Wasser in der Nacht meines Todes – nichts, was ich verdammt noch mal tat, würde auch nur das Geringste ändern. Ich war machtlos, unfähig und mir meines Todes so bewusst wie nie zuvor.
    Bald schon weinte ich mein tränenloses Weinen und drückte mit beiden Händen gegen seine Brust. Während wir tiefer in den Fluss sanken, wurde ich einer Sache voll und ganz gewahr: des Klangs seines immer langsamer schlagenden Herzens.
    Soweit ich wusste, besaß ich keinerlei geisterspezifischen Sinne. Und obwohl manche meiner menschlichen Sinne meinen Tod überlebt hatten – offenkundig meine Sehkraft und mein Hörvermögen –, konnte ich nichts mehr in der Welt der Lebenden riechen, schmecken oder spüren. Meine verbliebenen Sinnesorgane waren zwar nicht abgestumpft, waren aber auch gewiss nicht sensibler geworden.
    Folglich schockierte mich der Klang seines Herzschlags. Ich hätte ihn nicht so gut hören sollen, doch tat ich es. Selbst bei dreißig Zentimetern Wasser zwischen uns und mit nicht-besser-als-menschlichem Gehör vernahm ich seinen Herzschlag so deutlich, als hielte ich ihm ein Stethoskop an die Brust.
    Ich fragte mich, ob dies etwas mit dem Tod zu tun hatte. Damit, tot zu sein. Vielleicht hörte ich als Tote einen der Unseren herannahen, auf uns zurasen. Oder, wie in seinem Fall, sich auf uns zu verlangsamen.
    Der Junge und ich sanken tiefer, und während wir das taten, klopfte sein zerbrechliches Herz ungleichmäßig auf sein Ende zu. Jeder Schlag kam langsamer als der vorige, bis schließlich …
    Sein Herz stotterte einmal. Zweimal. Und dann hörte ich es nicht mehr. Ein winziges Bläschen entwich seinem Mundwinkel und trieb nach oben.
    Ich schrie. Ich schrie, wie ich es in der ersten Todesverzweiflung getan hatte, wütend und erniedrigt angesichts meiner eigenen Ohnmacht. Ich schrie und schlug ihm mit meinen nutzlosen Händen gegen die Brust.
    In dem Moment öffneten sich seine Augen.
    Er sah nach links und nach rechts, nahm seine Umgebung wahr. Dann sah er mich an. Er sah mir direkt in die Augen.
    Ich erstarrte. Konnte er mich … sehen?
    Er lächelte und streckte unvermittelt die Hand aus, um sie mir auf die Wange zu legen. Ich spürte seine Haut warm auf der meinen. Unwillkürlich legte ich meine Hand auf die seine. Sein Lächeln wurde breiter, als ich ihn berührte.
    Er sah mich!
    Er sah mich, er sah mich, er sah mich.
    Mein regloses, nicht schlagendes Herz tat einen Sprung. Und dann tat seines das Gleiche.
    Sein Herz – das ich gerade hatte sterben hören – stotterte und stotterte noch einmal. Das erneute Klopfen klang anfangs langsam und unregelmäßig, aber schon rasch stabilisierte es sich.
    Er sah auf seine Brust hinab und dann wieder zu mir auf. Vor Überraschung über das Geräusch, das aus seinem Innern drang, hatte er die Augenbrauen hochgezogen.
    Dann hustete er. Die Bewegung schüttelte seinen ganzen Körper, und aus seinem Mund sprudelten Bläschen.
    Nun trat er um sich und ruderte mit den Armen. Und ich stellte fest, dass ich sein Herz nicht mehr hörte. Es war still, wenigstens in meinen Ohren. Doch zappelte er wild und kämpfte gegen das dunkle Wasser an. Er hustete weiterhin heftig, während seine Lungen sich verkrampften und zu neuem Leben erwachten. Durch das aufgewühlte Wasser sah ich seine Miene. Er sah wütend aus, verängstigt und verzweifelt.
    Den Ausdruck erkannte ich wieder. Einst hatte ich diesen Ausdruck gefühlt. Dieser Junge war am Leben. Er war am Leben, und er wollte nicht sterben.
    » Schwimm!«, schrie ich ihm auf einmal zu. » Hoch! Raus!«
    Er sah mich nicht an, doch er machte Scherenschläge mit den Beinen und paddelte mit den Armen, als wühle er sich aus einem Abgrund, und im Gegensatz zu meinen Anstrengungen in meiner Todesnacht hatte sein Ringen Erfolg. Er trieb allmählich aufwärts, auf die Oberfläche des Flusses zu.
    Ich hatte noch nie eine solche Woge der Erleichterung verspürt. Nicht bei einer Million Erwachen aus diesen Albträumen. Nicht im Laufe von einer Million jener Keuchanfälle, die bewiesen, dass ich nicht länger dabei war zu ertrinken.
    » Hoch!«, schrie ich erneut, diesmal voll Freude.
    Er erkämpfte sich weiter seinen Weg nach oben, ohne sich auch nur einmal nach mir oder dem Klang meiner Stimme
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