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Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter

Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter

Titel: Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
Autoren: Tara Hudson
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Sinn, wenn ich aus dem Albtraum erwachte. Ich spielte meine schreckliche kleine Szene durch und wachte dann unter Schlucken und tränenlosem Schluchzen auf, jedes Mal an genau derselben Stelle. Es war gleichgültig, wo ich umhergewandert war, als ich das Bewusstsein verloren hatte – an einem verlassenen Eisenbahngleis, in einem dichten Kiefernwäldchen, in einem halb leeren Lokal – mein Ziel war immer das gleiche. Jedes Mal, wenn der Albtraum aufhörte, erwachte ich auf einer Wiese. Es war immer bei Tag, und ich war immer von unzähligen Reihen von Grabsteinen umgeben. Ein Friedhof. Wahrscheinlich meiner.
    Ich wartete nie ab, um es herauszufinden.
    Ich hätte vielleicht nach meinem Grabstein suchen können. Hätte mehr über mich in Erfahrung bringen können – über meinen Tod. Stattdessen erhob ich mich immer mühsam aus dem hohen Gras und stürzte auf das Tor in dem Eisenzaun zu, der das Gelände umgab, wobei ich so schnell rannte, wie mich meine nicht existierenden Beine trugen.
    Und so sah mein Dasein aus: eine Aneinanderreihung zielloser Wanderungen, gelegentlich eine Bemerkung, an einen Fremden gerichtet, der sie nicht hörte, und dann die Albträume und anschließend die übereilte Flucht vom Ort meines Erwachens.
    Bis zu diesem Albtraum.
    Dieser Albtraum hatte genauso begonnen. Und genau wie immer endete er mit einem angstvollen Erwachen. Doch diesmal erblickte ich, als ich endlich die Augen aufschlug, nicht das Sonnenlicht eines verwahrlosten Friedhofs. Ich sah nur Schwarz.
    Die unerwartete Dunkelheit brachte das Entsetzen zurück, das verzweifelte Keuchen. Zumal ich nach nur einem Herzschlag, hätte denn mein Herz noch geschlagen, meinen Aufenthaltsort wiedererkannte.
    Ich trieb wieder in dem Fluss.
    Trotz meines erneuten Schluckens drang aber nichts von dem trüben Wasser, das mich umgab, in meinen Mund ein. Mein Körper war noch genauso unwirklich, wie er vor diesem Albtraum gewesen war. Er trieb unberührt von dem wütend ziehenden und zerrenden Wasser vor sich hin. Diesmal jedoch lagen die Dinge anders, auch wenn die dunkle, unstete Szene beinahe genauso aussah wie in jedem einzelnen meiner schrecklichen Träume.
    Aber eben nur beinahe.
    Denn diesmal ertrank nicht ich.
    Sondern er.

2
    M ein erster Eindruck von der Szene trog. Das Wasser war nicht völlig schwarz. Schwaches Licht schimmerte auf der Oberfläche – vielleicht Mondschein. Es war zu dumpf, um Sonnenlicht zu sein. Unter mir schienen zwei trübe gelbe Strahlen aus den Tiefen des Flusses emporzusteigen.
    Nein, sie stiegen nicht empor. Die Strahlen zeigten nach oben, doch sie entfernten sich immer weiter. Ich warf einen raschen Blick auf ihre Quelle. Sie kamen von etwas Riesigem, Dunklem direkt unter mir. Dieses Etwas – ein Auto, dessen Scheinwerfer in die Dunkelheit leuchteten – versank mit gespenstischer Langsamkeit in der Tiefe.
    Ich schüttelte den Kopf. Das Auto war mir im Grunde gleichgültig, meine Aufmerksamkeit galt dem Jungen, der von den Scheinwerfern des Wagens angestrahlt wurde.
    Sein Körper bildete eine Art X , mit schlaff emporschwebenden Armen und Füßen, die in Turnschuhen steckten und nach unten baumelten. Sein Kopf hing herab, und es war unverkennbar, dass seine Augen geschlossen waren.
    Dieser Junge ruderte weder wild mit den Armen, noch kämpfte er, und auf einmal traf mich eine schreckliche Erkenntnis. Der Junge war bewusstlos. Und es war nicht die Art von Bewusstlosigkeit, die die Toten peinigt, sondern die Art, die die Lebenden umbringt.
    Wenn der Junge nicht aufwachte, würde er ertrinken.
    Ohne nachzudenken, schwamm ich so schnell wie möglich zu ihm. Als ich ihn erreichte, konnte ich sein ganzes Gesicht sehen. Er war jung, nicht älter als ich bei meinem Tod. Sein Gesicht sah friedlich aus in seiner Reglosigkeit. Er sah unglaublich gut aus. Das konnte ich erkennen, selbst unter Wasser. Die dunklen Haare trieben trotz der Strömung beinahe träge über seinem Kopf. Unwillkürlich schoss mir ein törichter Vergleich durch den Sinn: seine ausgestreckten Arme ähnelten Flügeln. Allerdings nutzlosen Flügeln. Beinahe müßig fragte ich mich, ob meine Arme bei meinem Tod den seinen geähnelt hatten.
    Meine nächsten Gedanken kamen ebenso plötzlich wie heftig. Dieser Junge durfte nicht sterben. Ich konnte nicht mit ansehen, wie er starb. Nicht hier, nicht so.
    Ich fing an, nach ihm zu greifen, und versuchte fieberhaft, an seiner Kleidung und seinen Gliedmaßen zu ziehen. Ihn an die Oberfläche zu zerren. Ich
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