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Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter

Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter

Titel: Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
Autoren: Tara Hudson
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auch ich es wollen würde. Wie sehr mein Verlangen, gesehen zu werden, und zwar insbesondere von ihm, mit jedem Mal zunehmen würde.
    Doch ihn wiederzusehen würde bedeuten, ihm die Wahrheit zu sagen.
    Als ich am Flussufer saß, nachdem Joshua fort war, war ich mir sicher, dass ich ihn am folgenden Tag nicht würde anlügen können. Denn war nicht mein völlig lächerliches Verhalten auf der Brücke ein Anzeichen dafür, wie schlecht ich ihn täuschen konnte? Wenn ich ihn im Park treffen und wir uns unterhalten würden, würde ich ihm zweifellos alles erzählen: was ich unter Wasser gesehen hatte und was ich wirklich war. Woraufhin er zweifellos das Weite suchen würde.
    Selbst wenn ich also in den Park ginge, würde ich ihn anschließend wahrscheinlich nicht wiedersehen. Unter dieser Voraussetzung musste ich mir die Frage stellen, was mehr wehtäte – die dumpfe Einsamkeit des Unsichtbarseins oder die schmerzliche Einsamkeit einer direkten Zurückweisung vonseiten der Welt der Lebenden. Ich kannte die schrecklichen Grenzen und Tiefen Ersterer, doch ich hatte keine Ahnung, wie qualvoll Letztere sein könnte – und wahrscheinlich sein würde.
    Aufgrund dieser Überlegungen beschloss ich, wie ich am folgenden Tag vorgehen würde: Ich würde nicht hingehen. Ich würde mich verstecken. Ich würde mein totes Herz vor allem schützen, was schlimmer als Taubheit wäre.
    Und ich würde wahrscheinlich jahrelang deswegen Trübsal blasen. Niedergeschlagen schlang ich die Arme um die Knie.
    Da ließ etwas meinen Kopf hochschnellen, und ich sprang aus dem Gras auf. Zuerst wusste ich nicht recht, was diese Reaktion bei mir hervorgerufen hatte. Als ich versuchte, meiner Umgebung einen Hinweis darauf zu entnehmen, fiel mir auf, dass die Sonne beinahe untergegangen war, während ich mich selbst bemitleidet hatte. Sie ließ das Wasser feurig erglühen und warf tiefe Schatten in den Wald.
    Doch nicht das zur Neige gehende Sonnenlicht hatte mir Angst eingeflößt. Sondern etwas, was in krassem Gegensatz zu dem glühenden Licht des Sonnenuntergangs stand: ein bitterkalter Wind, der mir jetzt über die nackten Beine und durch die Haare fuhr.
    In letzter Zeit hatte ich so viele unerwartete Sinneseindrücke empfangen, dass mich der Wind eigentlich nicht derart aus der Fassung hätte bringen sollen. Doch das tat er.
    Der Spätsommer war nicht die rechte Jahreszeit für einen eisigen Wind. Schlimmer noch, nichts um mich her hatte sich im Wind geregt – weder die hohen Gräser am Ufer noch die Nadeln der Kiefern in der Nähe. Außerdem kam der Wind aus der falschen Richtung. Er blies nicht vom Wasser vor mir oder die breite Schneise entlang, die der Fluss durch den Wald zog. Er kam direkt von dem im Schatten liegenden Waldrand hinter mir.
    Als mir das alles bewusst wurde, spürte ich tatsächlich, wie sich die Härchen auf meinen Armen aufrichteten. Ich konnte nicht anders, sondern hob den Unterarm, starrte die Gänsehaut an und bestaunte das Wiederaufleben meiner eigentlich längst erstorbenen Flucht-oder-Kampf-Reaktion.
    Ohne Vorwarnung schwoll der Wind zu einem Sturm an, der mir die Haare ins Gesicht peitschte und mir die Sicht nahm. Ich wandte mich zum Wald um und wäre beinahe durch die Gewalt des Sturms gestolpert. Er heulte in den Bäumen, und ich riss die Hände empor, um meine Ohren vor dem Geräusch zu schützen. Dann hörte der Wind auf, so unvermittelt, wie er eingesetzt hatte. Es wurde totenstill am Ufer.
    Meine Hände bedeckten immer noch meine Ohren, und ich hatte unwillkürlich die Augen fest zusammengekniffen. Ich saß tief vornübergebeugt da, die angewinkelten Knie mit den Ellbogen zusammengepresst.
    » Hallo, Amelia.«
    Eine Männerstimme wehte vom Waldrand herüber. Ich blieb zusammengekauert sitzen und machte bloß ein Auge auf, nicht gewillt zu glauben, dass da tatsächlich jemand direkt mit mir sprach. Jemand anders als Joshua.
    » Hörst du mich, Amelia?«
    Ich öffnete das andere Auge und richtete mich langsam auf, immer noch die Hände über den Ohren, als würden sie mir Schutz vor der Stimme dieses Fremden gewähren. Anscheinend wollten mir meine Stimmbänder nicht gehorchen. Er seufzte ungeduldig. Offensichtlich wartete er auf eine Antwort meinerseits.
    » Also wirklich, Amelia, du benimmst dich schrecklich unhöflich.«
    » W-wie bitte?«, brachte ich stammelnd hervor.
    Der Unsichtbare schnalzte tadelnd mit der Zunge. » Immer noch unhöflich.«
    Sein Tonfall vertrieb die angstvolle Kälte, die allmählich
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