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Wenn du lügst

Wenn du lügst

Titel: Wenn du lügst
Autoren: Anna Salter
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können. Ich machte mir unaufhörlich Sorgen um meine selbstzerstörerischen, suizidgefährdeten Patienten. Ich fühlte einfach zu sehr mit den Menschen mit, um als Therapeutin überleben zu können. Die Empfindungen anderer waren für mich fast genauso greifbar wie meine eigenen und ebenso schwer loszulassen. Vielleicht hing es mit der Synästhesie zusammen. Wer weiß?
    Was auch immer die Gründe waren, es fiel mir leichter, mit Täuschungen und Manipulationen umzugehen als mit seelischem Trauma und Leid. Gegen die faulen Tricks konnte ich nichts tun, und ich war erfahren genug, um es gar nicht erst zu versuchen. Ich empfand kein echtes Mitgefühl mit Psychopathen, Vergewaltigern und Pädophilen, und das rettete mich. An den meisten Tagen beobachtete ich lediglich, machte mir Notizen und schrieb meine kleinen Berichte - Berichte, die jene, die das Gesetz von den Straßen fernhalten konnte, von all den anderen trennte, bei denen das nicht möglich war. Manchmal, nur manchmal, reichte ein solcher Bericht aus, um ein weiteres Kind vor sexuellem Missbrauch, eine weitere Frau vor einer Vergewaltigung zu bewahren, und ich schätze, das war gar keine schlechte Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
    Trotzdem kam es gelegentlich vor, dass mir diese Schreckensgeschichten emotional zusetzten. Die von der naiven Therapeutin war schon schlimm genug, aber was sich wirklich in mein Hirn gebrannt hatte, war die
Sache mit der »Schlampenjagd«. Ich konnte die zwölfjährigen Mädchen praktisch schreien hören in dem matratzengepolsterten Kellerraum.
    Ich erreichte das Motel. Nachdem ich ein paar Minuten lang lustlos herumgesessen war, ging ich zum Fenster und zog die Vorhänge auf, um die Aussicht zu begutachten. Ein Parkplatz begrüßte mich. Die Natriumdampflampen tauchten den nassen Asphalt in ein schwaches gelbes Licht, und die Autos wirkten wie tote Käfer, die auf einem ölig-schwarzen Meer dahintrieben. Ich schloss die Augen und dachte an mein Zuhause auf Blackbeard’s Isle. Die Sonne würde dort gerade ihre große Show abziehen, indem sie geschmeidig ins Meer glitt, dabei lange, kanariengelbe Streifen über die Wellen pinselte und riesige rosarote und violette Kleckse auf den blassblauen Himmel tupfte.
    Es gab lebendige Dinge auf dieser Welt. Die Insel, auf der ich lebte, war voll von ihnen, aber hier existierten sie nicht. Es gab sogar von Menschenhand geschaffene Dinge, die eine Seele hatten: Segelboote, kleine Flugzeuge oder Hängegleiter. Motels gehörten nicht dazu. Mir war noch nie ein Motel untergekommen, das etwas anderes als ein toter Fleck auf diesem Planeten gewesen wäre. Kein lebendiges Wesen blieb lang genug, um ihm irgendeine Art von Seele einzuhauchen. Wir alle waren nur Durchreisende, und unsere Seelen berührten nichts. Die Stühle, Tische und Betten waren nur leere Hülsen, Abbilder ihrer selbst, die nichts von dem verströmen, das Dingen anhaftet, die tatsächlich Teil des Lebens eines Menschen sind. Hier gab es keine Energie, um den Geist aufzuladen, und meine Akkus waren fast leer. Was
würde wohl passieren, überlegte ich, wenn meine Akkus eines Tages unterwegs vollständig versagten und ich es nicht nach Hause zurückschaffte? Ich drehte langsam durch.
    Am Morgen trat ich den langen Heimflug an. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt nicht die leiseste Vorahnung, dass ich binnen vierundzwanzig Stunden Hals über Kopf wieder davonstürzen würde, und das nur wegen der Stimme eines Teenagers, der mich mitten in der Nacht anrief.

kapitel 3
    Der Stundenzeiger kroch gerade auf die Drei zu, als das Telefon läutete. Ich war so dankbar gewesen, wieder auf Blackbeard’s Isle zu sein, dass ich in tiefen Schlaf gesunken war, wie meist nach einer Reise. Ich setzte mich langsam und zu benebelt für koordinierte Bewegungen auf und schlug das Telefon zu Boden. »Ja?«, sagte ich schließlich, nachdem ich auf allen vieren herumgekrabbelt und es wiedergefunden hatte. Ich war zu müde, um auch nur auf den Gedanken zu kommen, dass es sich um schlechte Nachrichten handeln musste. Was sonst kann ein Anruf um drei Uhr morgens schon bedeuten?
    »Sind Sie eine Freundin von meiner Mutter?«, fragte die Stimme, und bei ihrem Klang explodierte vor meinem geistigen Auge eine hell-orangerote Sternengalaxie. Die Stimme war jugendlich und schrill und noch etwas anderes - wütend vielleicht oder einfach nur beunruhigt.
    »Ob ich was bin?« Ich versuchte, meinen Kopf klar zu bekommen. Ich kannte diese Stimme nicht. Es musste ein
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