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Wenn du lügst

Wenn du lügst

Titel: Wenn du lügst
Autoren: Anna Salter
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übermächtiges - Bedürfnis, jemand zu feuern wegen der Sache, aber die Einzigen, die in Frage gekommen wären, waren sie selbst und ihr Verlobter, und …« Er zuckte die Achseln. Wir wussten beide, dass sie einen viel höheren Preis bezahlt hatten, als gefeuert zu werden.
    »Tun Sie, was Sie tun müssen«, fügte er hinzu. »Aber ganz egal, ob Sie glauben, es beweisen zu können, oder nicht, ist dieser Mann gefährlich, und Sie wissen es.«
    »Sir. Ich verspreche Ihnen, dass ich das Ganze sehr sorgfältig prüfen werde. Trotzdem muss ich noch einmal betonen, dass mir die Hände gebunden sind, falls er die gesetzlichen Kriterien nicht erfüllt. Sie und ich, wir wissen beide, dass Tag für Tag eine Vielzahl gefährlicher Menschen aus den Gefängnissen entlassen wird. Und falls er die Kriterien nicht erfüllt, würde es auch nichts ändern, wenn ich das Gegenteil behaupte. Ich bin weder der Richter noch die Jury. Wenn ich versuchen würde, jemand in das Profil eines Sexualstraftäters mit Rückfallrisiko einzupassen, der die Kriterien nicht erfüllt, würde mich die Verteidigung in der Luft zerreißen, und er würde trotzdem entlassen werden. Ich kann keinen Fall stricken, der nicht da ist.«

    »Jurys sind unberechenbar«, sagte er. »Sie sind wie die National Football League. An jedem beliebigen Samstag kann alles Mögliche passieren.«
    Das konnte ich nicht bestreiten.
    »Tun Sie, was Sie können«, fuhr er fort. »Wenn man ihn freilässt, wird jemand zu Schaden kommen.« Das konnte ich ebenso wenig bestreiten.
    Als ich mich gerade zum Gehen wandte, kam mir ein Gedanke, und ich drehte mich noch einmal um. »Darf ich Sie etwas fragen, Direktor Stevens?«
    »Sicher.«
    »All diese Menschen, die mit ihm arbeiten - die Geistlichen, Rechtsanwälte, Ehrenamtlichen -, hat einer dieser Menschen jemals darum gebeten, ihn trotz seiner Vergehen allein zu treffen?«
    »Ständig«, sagte er gequält lächelnd. »Wirklich ständig.«
     
    Draußen hatte sich der Himmel schlammbraun verfärbt, und die Luft fühlte sich klamm und schwer an. Der Regen scheint im Nordwesten nicht immer herabzufallen; manchmal wirkt es, als verdunste er einfach in der Atmosphäre. Der Himmel und das Gefängnisgebäude waren von ein und derselben Grau-Palette und im schwächer werdenden Tageslicht kaum zu unterscheiden. Ich versuchte, mir Wetterbedingungen vorzustellen, unter denen sich ein Gefängnis nicht mehr von meinem heiß geliebten Carolina-Himmel abheben würde, aber es gelang mir nicht. Der strahlende Südhimmel über den Outer Banks, wo ich lebte, würde diesen Gefängnisbau schmutzig und hässlich wirken lassen - und so deplatziert wie eine Stadtautobahn in einer Berglandschaft.
Sogar wenn es zu Hause stürmte, zerfetzten solche Stürme die Welt mit grimmiger Energie. Diese endlose Feuchtigkeit, dieser wollgraue Himmel, die den Nordwesten kennzeichnen, hatten nichts gemein mit den frischen Frühlingsregen in Carolina oder dem wilden, stechenden Regen eines heftigen Winters. Ich sah mich ein letztes Mal um, dann machte ich mich auf den langen Rückmarsch zum Parkplatz und zu meinem Auto.
    Da ich vor dem nächsten Morgen keinen Heimflug mehr bekam, nahm ich es mit dem niemals endenden Verkehr in Seattle auf, um zum Flughafenmotel zu gelangen. Da war ein Meer roter Lichter vor und eins weißer Lichter hinter mir, während die Autos selbst nur kurz aus dem Nebel auftauchten, bevor sie wie vorüberflitzende, graue Metallgeister wieder in der Dunkelheit verschwanden.
    Es waren nicht nur die feuchte, graue Atmosphäre und der klaustrophobische Verkehr, die auf meine Stimmung drückten. Die Erschöpfung hielt mich noch immer in ihren Klauen. Nach der Befragung eines bösartigen Individuums fühlte ich mich nie gut, und manchmal dauerte dieser Zustand eine ganze Weile an. Ich fragte mich, wie es anderen ergehen mochte, Menschen, die nicht bildlich sahen, wie Stimmen kratzig wurden, oder seltsame Empfindungen in den Handflächen bekamen, wenn sie mit Lügen konfrontiert wurden, aber ich vermutete, auf die eine oder andere Art nimmt es jeden mit.
    Es war der Preis, den ich dafür zahlte, keine Opfertherapien mehr zu machen. Ich wäre fast ertrunken in all dem Elend, das pünktlich zu jeder vollen Stunde über die Türschwelle einer psychotherapeutischen Praxis
schwappt. Irgendwann hatte ich den Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr einem einzigen gebrochenen, misshandelten Kind, einem einzigen neurotischen, depressiven Erwachsenen hätte zuhören
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