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Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Titel: Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Autoren: Anika Beer
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buchstäblichen Katzensprung entfernt.
    Anders als beim letzten Mal, als Nele hier gewesen war, lag die Kreuzung jetzt ebenso verlassen da wie der Rest der Stadt. Die Menschenmassen, die sich um die Absperrung gedrängt hatten, waren verschwunden, und weit und breit war niemand zu sehen. Dafür waren aber umso mehr Träume hier. Eine gewaltige Felsformation, höher selbst als die höchsten Dächer Erlfelds, war mitten auf der Straße aus dem Boden geschossen. Ein Feld aus rotem Mohn wucherte über den Asphalt und verdeckte die Blütenblätter, Bojen und Krater. Verlassene Autos standen planlos über die Kreuzung verteilt, sogar ein Streifenwagen war darunter. Und noch immer tropften Träume aus dem Himmel, verwandelten sich in kreischende Affen und goldenen Regen oder flossen einfach über den Boden, als könnten sie sich nicht entscheiden, welche Form sie annehmen sollten.
    Auf den Felsen!, bestimmte Fae und kletterte bereits hinauf. Nele konnte inzwischen nur noch keuchen. Sie hatte das Gefühl, mit ihrer Kraft völlig am Ende zu sein. Aber Fae schien ihren Körper anders einzuschätzen. Dabei, fürchtete Nele, stand der eigentliche Kraftakt erst noch bevor. Und zwar unmittelbar. Aber inzwischen war sie sogar zu erschöpft, um aufgeregt zu sein.
    Als sie schließlich die Spitze des Felsens erreichten und Nele auf die Stadt heruntersah, erkannte sie das ganze Ausmaß des Chaos, in das Erlfeld in den vergangenen Stunden gestürzt war. Alles war in Bewegung, nichts blieb auch nur einen Augenblick wie es war. Flüssiges Silber triefte und rieselte in einem fort vom Himmel, ließ ganze Häuser zerfließen, Straßen zu Schluchten werden und Bäume zu bizarren Türmen anwachsen. Der Marktplatz mit dem Brunnen, auf dem Nele sich mit Jari getroffen hatte, war zu einem schneebedeckten Wald geworden, gesäumt von schiefergrauen Wolkenschlössern. Und noch immer war kaum ein Mensch zu entdecken.
    Manche von ihnen haben sich in ihre eigenen Träume verwandelt, flüsterte Fae hinter Neles Stirn. Oder sie verstecken sich in tiefem Schlaf, aus dem sie sich nicht befreien können. Wir müssen handeln. Und zwar jetzt gleich.
    »Aber was tun wir denn?«, japste Nele.
    Wir rufen sie zusammen. Die Göttin klang nun grimmig und zugleich entschlossen. Und dann schickst du sie alle zurück.
    »Sie rufen? Wie?«
    Das wirst du gleich sehen. Vertrau mir nur.
    Vertrauen. Das sagte sich so leicht, dachte Nele, wenn sie doch überhaupt nicht wusste, worauf sie sich einzustellen hatte. Sie spürte, wie sich in ihrem Bauch ein Kribbeln regte, wie es anschwoll und sich in ihr ausbreitete, bis es von ihren Fußnägeln bis in die Haarspitzen jedes Gefäß und jede Pore ausfüllte. Und dann bäumte es sich auf. Neles Kopf bog sich zurück, und ein Schrei, so tief und wild, dass sie ihre eigene Stimme kaum darin erkannte, brach aus ihrer Kehle. Ein lang gezogenes Heulen, das sich durch den Stein unter ihren Füßen bis in die Erde hinein fortsetzte und wie eine gewaltige Druckwelle durch die ganze Stadt jagte.
    Kommt!, wisperte Fae, und Neles Mund formte die Worte zur gleichen Zeit, trug sie durch Luft und Erde in jeden Winkel. Kommt zu mir!
    Und die Träume kamen.
    Nele spürte, wie sie herankrochen, in Wirbeln auf sie zuflogen und durch die Straßen dem Zentrum zuflossen.
    Kehrt zurück zu mir! Kehrt zurück nach Hause!
    Kreischen, Kichern, Grollen und Murmeln erfüllte die Luft, unterlegt vom Schaben und Tappen unzähliger Füße auf Asphalt und Blütenblättern. Näher und näher, lauter und lauter. Und als der Schrei endlich verstummte und Nele die Augen wieder öffnete, sah sie auf ein Heer der Grotesken herab.
    Es war ein Ozean der Absonderlichkeiten, der gegen den Felsen unter ihr anbrandete, wie sie ihn sich in ihrem ganzen Leben nicht ansatzweise hätte ausdenken können. Kreaturen, manche noch halb menschlich, andere riesig und bestienhaft, wandernde Pflanzen oder einfache, alltägliche Gegenstände, die doch wie von einem eigenen Leben beseelt schienen. Sie raunten, jammerten und stöhnten. Viele hielten ihre Arme wie flehend erhoben, als hofften sie auf Erlösung.
    Und dort… dort waren auch Jaris Eltern. Direkt zu Neles Füßen versuchten sie, den Felsen hinaufzuklettern. Die Mutter, der Geist, selbst kaum noch mehr als ein Lufthauch. Und der Vater, das Monster, das Nele hinter der Tür hatte schnarchen hören. Ein haariges, bulliges Ungetüm mit funkelnden Augen. Wer sonst mochte dort unten sein, den sie kannte?, dachte sie entsetzt.
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