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Wenn die Nacht dich kuesst...

Wenn die Nacht dich kuesst...

Titel: Wenn die Nacht dich kuesst...
Autoren: Teresa Medeiros
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sie die elegante Versammlung betrachtete, wünschte sich Caroline fast, sie hätte sich geweigert, ihren eigenen Umhang abzulegen. Vivienne war eine liebliche Vision in himmelblauem Popeline, und Portia sah in ihrem besten Sonntagskleid reizend mädchenhaft aus. Da die Säume kürzer getragen wurden und die neueste Mode überquellende Ausschnitte verlangte, wagte Caroline zu hoffen, niemandem würde auffallen, dass Portias Kleid mehr als zwei Jahre alt war.
    Caroline war gezwungen gewesen, ihre gesamte Londoner Garderobe aus den Truhen ihrer Mutter zu bestreiten. Sie konnte nur dankbar sein, dass Louisa Cabot so hoch gewachsen und schlank wie sie gewesen war und sich ebenfalls keines besonders großen Busens hatte rühmen können. Das Abendkleid aus blasser indischer Seide, das sie trug, war in seiner Schlichtheit fast im griechischen Stil geschnitten, besaß einen geraden Ausschnitt, eine hoch angesetzte Taille und keines der schmückenden Kinkerlitzchen, die im vergangenen Jahrzehnt allmählich wieder modern geworden waren.
    Sich schmerzlich der neugierigen Blicke bewusst, die ihr von den etwa einem Dutzend Anwesenden im Empfangssalon zugeworfen wurden, setzte sie ein gezwungenes Lächeln auf. Nach den selbstzufriedenen Mienen und den Diamanten zu schließen, die an den Händen von Frauen wie Männern funkelten, schien es, dass Portia Recht gehabt hatte. Adrian Kanes Ruf hatte seinem gesellschaftlichen Ansehen offensichtlich nicht geschadet. Einige der Frauen musterten Vivienne rachsüchtig.
    Vivienne und Tante Marietta glitten durch den Raum, tauschten gemurmelte Begrüßungen oder neigten freundlich den Kopf. Portia hielt sich hinter ihnen, die Hand auf dem Hals.
    Der Konzertflügel in der Ecke verstummte. Eine dunkle Gestalt erhob sich von der Klavierbank. Beim Anblick des jungen Mannes ging ein erwartungsvolles Raunen durch die Versammlung. Es schien, dass Caroline und ihre Familie gerade rechtzeitig erschienen waren für eine Art Vortrag. Erleichtert, dass sie nicht länger im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, begab sich Caroline in eine Nische an der Rückseite des Raumes, von wo aus sie die Vorgänge beobachten konnte, ohne angestarrt zu werden. Ein nahes französisches Fenster ging auf den Garten hinaus, versprach ein rasches Entkommen, falls es nötig würde.
    Einfach dadurch, dass er zum Kamin schritt und sich davor aufstellte, verwandelte der schwarz gekleidete Fremde wundersamerweise die Stelle in eine Bühne und die Besucher im Salon in sein gebanntes Publikum. Seine modische Blässe betonte seine seelenvollen dunklen Augen und die schwarzen Locken, die ihm verwegen in die Stirn fielen. Er hatte breite Schultern, schmale Hüften, eine elegante Adlernase und volle Lippen, die Sinnlichkeit verhießen. Aus Viviennes liebevollem Lächeln schloss Caroline, dass er ihr Gastgeber sein musste.
    Ehrfürchtiges Schweigen legte sich über den Salon, als er einen Fuß auf das Kamingitter stellte. Caroline merkte es erst nach einer Weile, dass sie den Atem anhielt, als er in einem Bariton zu sprechen begann, so melodisch, dass die Engel vor Neid weinen würden.
»Doch erst zur Erde als Vampir gesandt,
    aus dem Sarge gerissen dein untoter Leib,
    gar schaurig sein Unwesen treibt im Heimatland.
    Er dürstet nach Blut mit aller Macht,
    daselbst von Mutter, Schwester, Weib,
    und trinkt zur Neige den Lebenssaft — zur Mitternacht.«
    Carolines Augen wurden groß, als sie die Worte aus Byrons legendärem türkischen Fragment wiedererkannte, Worte, die sie Portia erst vor ein paar Tagen mit vergleichbarer Dramatik hatte deklamieren hören. Sie schaute ihre kleine Schwester an. Portias Hand war von ihrem Hals auf ihr Herz gerutscht, während sie den jungen Adonis anstarrte, und in ihren Augen glomm ein bewunderndes Funkeln auf. Ach du meine Güte, dachte Caroline. Es wäre für Portia nicht gut, eine unerwiderte Vernarrtheit in den Verehrer ihrer Schwester zu entwickeln.
    Mit seinem mürrischen Mund und der Kerbe in seinem Kinn hätte man den jungen Sprecher leicht mit Lord Byron selbst verwechseln können. Aber ganz London wusste, dass der fesche Dichter derzeit in Italien und in den Armen seiner neuen Mätresse Gräfin Guiccioli weilte.
    Als er mit einer weiteren Strophe begann, dabei den Kopf so drehte, dass alle im Salon sein klassisches Profil bewundern konnten, musste sich Caroline die Hand vor den Mund halten, um nicht zu laut zu lachen. Das hier also war der berüchtigte Viscount! Kein Wunder, dass er Vivienne
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