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Wenn die Nacht dich kuesst...

Wenn die Nacht dich kuesst...

Titel: Wenn die Nacht dich kuesst...
Autoren: Teresa Medeiros
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aussah. Portia stand in der Mitte des staubigen Salons, einen Brief in der zitternden Hand. In ihren dunkelblauen Augen war ein bestürzter Ausdruck, und ihre gewöhnlich rosigen Wangen waren so blass, als hätte irgendein umhangschwingender Schurke ihr alles Blut aus dem jungen Leib gesaugt.
    »Was, um alles in der Welt, ist denn jetzt schon wieder los?« Mit wachsender Sorge legte Caroline ihren Stift zur Seite und glitt vom Stuhl. Sie hatte fast drei Stunden gebückt über dem Schreibtisch gesessen und nach einem neuen Weg gesucht, die monatlichen Ausgaben ihres Haushaltes von den Einkünften abzuziehen, ohne dass am Ende eine Zahl unter null herauskam. Achselzuckend, um die Anspannung aus ihren Schultern zu vertreiben, nahm sie ihrer Schwester den Brief aus der Hand. »Es kann doch gewiss nicht so schlimm sein. Lass mich mal sehen.«
    Caroline erkannte sogleich die verschnörkelte Schrift ihrer mittleren Schwester. Sich eine lästige Strähne ihres blonden Haares aus der Stirn streichend, überflog sie rasch den Brief, übersprang die endlosen Beschreibungen von tüllverzierten Ballkleidern und flotten Ausfahrten auf der Rotten Row im Hyde Park. Sie brauchte nicht lange, um die Stelle zu finden, die Portia hatte erblassen lassen.
    »Himmel«, sagte sie leise vor sich hin und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Nach nur einem Monat in London scheint unsere Vivienne bereits einen Verehrer gefunden zu haben.«
    Caroline weigerte sich, den vertrauten Stich des Neides in ihrem Herzen zur Kenntnis zu nehmen. Als ihre Tante Marietta angeboten hatte, Vivienne in die Gesellschaft einzuführen, war es Caroline nicht einmal in den Sinn gekommen einzuwenden, dass ihre eigene Einführung ins Ungewisse verschoben worden war, nachdem ihre Eltern durch einen Kutschenunfall am Vorabend ihrer Vorstellung bei Hofe umgekommen waren. Und Caroline hatte ebenso alle etwa aufkommenden Neidgefühle resolut beiseite geschoben, als Vivienne nach London aufgebrochen war mit all den schönen Sachen, die ihre Mutter einst für ihr dann aufgeschobenes Debüt ausgesucht hatte. Es war eine Verschwendung von kostbarer Zeit, über etwas zu trauern, das in der Vergangenheit lag und nicht mehr zu ändern war, einen Traum, der nie Wirklichkeit werden konnte. Außerdem war Caroline inzwischen mit ihren vierundzwanzig Jahren so endgültig eine alte Jungfer, dass ein Wunder nötig wäre, um daran etwas zu ändern.
    »Einen Verehrer? Ein Ungeheuer, meinst du wohl!« Portia spähte über Carolines Schulter, sodass eine ihrer schwarzen Locken Caroline an der Wange kitzelte. »Ist dir etwa der Name des Schuftes entgangen?«
    »Oh, nein, ganz im Gegenteil. Vivienne hat ihn schließlich in ihrem kühnsten Schriftzug aufgeschrieben und sogar liebevoll verziert.« Caroline verzog das Gesicht, als sie sich die zweite Seite des Briefes anschaute. »Ach du liebe Güte, hat sie wirklich statt des i-Punktes ein Herzchen gemalt?«
    »Wenn die bloße Nennung seines Namens in dir weder Angst noch Schrecken weckt, dann musst du völlig ahnungslos sein, in welchem Ruf dieser Mann steht.«
    »Das bin ich nun nicht mehr.« Caroline fuhr fort, den Brief zu lesen. »Unsere Schwester hat umsichtigerweise eine ausführliche Aufzählung all seiner Vorzüge angefügt. Aus ihren glühenden Worten kann man nur schließen, dass die Liste der Tugenden des Gentlemans allein von der des Erzbischofs von Canterbury übertroffen wird.«
    »Obgleich sie wortreich auf den Schnitt seines Rockes und die Eleganz seines Halstuches eingeht sowie seine Freundlichkeit Witwen und Waisen gegenüber beschreibt, nehme ich nicht an, dass sie sich die Mühe gemacht hat zu erwähnen, dass er ein Vampir ist.«
    Caroline drehte sich zu ihrer Schwester um, mit ihrer ohnehin knappen Geduld am Ende. »Ach, Portia! Seit du dieses lächerliche Buch von Dr. Polidori gelesen hast, meinst du hinter jedem Vorhang und jeder Zimmerpalme einen Vampir zu entdecken. Hätte ich geahnt, dass >Der Vampir< dich so fesseln und deine Phantasie derart beflügeln würde, ich hätte das Werk auf den Müll geworfen, sobald es ankam. Vielleicht hätte einer der Werwölfe, die du im Abfall wühlen gesehen hast, es weggeschleppt und irgendwo verbuddelt.«
    Portia richtete sich zu ihrer vollen Größe von knapp einem Meter achtundfünfzig auf, rümpfte die Nase und erklärte: »Jedermann weiß, dass Dr. Polidori die Geschichte nicht geschrieben hat. Er selbst hat sogar zugegeben, sie im Auftrag seines berühmtesten Patienten zu
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