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Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause

Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause

Titel: Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause
Autoren: Malte Pieper
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zweihundertfünfzig Meter hohen Baum geklettert, Ramira war von zehn Gangstern überfallen worden, hatte sich aber mit Hilfe ihrer Karatekünste wieder befreien können, und Orhan war mit Spiderman nach New York geflogen und hatte dort King Kong mit einem Maschinengewehr besiegt. Als ich an der Reihe war, erzählte ich wahrheitsgemäß, das Kaninchen meiner großen Schwester sei gestorben. Doch aus irgendwelchen Gründen glaubte mir keiner. Im Gegenteil, alle bezichtigten mich der gemeinen Lüge und warfen mir vor, dass ich das arme Kaninchen dazu ausnutzen würde, um mich wichtig zu machen.
    Aber das mit Spiderman hatten sie geschluckt.
    Ich nahm mir vor, demnächst zu sagen, Godzilla habe alle Barbie-Puppen meiner Schwester fressen wollen, das Kaninchen sei todesmutig dazwischengegangen und habe im Kampf erst eine super Figur und anschließend den Löffel abgegeben. Dann wäre Fabios Oma mit einem Stück Kuchen im Hals der Erstickung nahe ins Zimmer getorkelt gekommen und hätte sich auf Godzilla gesetzt, wodurch das Kuchenstück sich gelöst hätte und im hohen Bogen aus ihrem Mund geflogen wäre. Dann hätte Marie sicher geheult wegen der Barbie-Puppen, die Jungs hätten die Szene glaubwürdig im Klassenzimmer nachgespielt, und Frau Neumann hätte mir das Bundesverdienstkreuz für besondere Kreativität verliehen. Da wäre selbst Paul aus seinem Zweihundertfünfzig-Meter-Baum gekippt.
    Insofern waren dieser und alle anderen Erzählkreise doch für etwas gut. Ich lernte, dass man sich nur etwas Kreatives und interessant Klingendes zurechtlegen musste, schon hatte man in der Schule gewonnen. Immer etwas übertreiben und selbstsicher die eigene Weisheit in die Welt hinausposaunen, auch wenn man keine Ahnung hat. Wenn man ein Referat über eine ungefährliche Spinnenart hielt, durfte man auch ruhig mal behaupten, das Viech fresse kleine Kinder oder sei extrem giftig. Hauptsache, man trug es überzeugend vor. Der Rest war pures Staunen der Klassenkameraden und eine positive Beurteilung durch die Lehrkraft.
    Schluss mit lustig
    Die Wochen, Monate und Jahre vergingen, und aus kleinen Analphabeten wurden große mehr oder weniger gebildete Viertklässler, die sich alles in allem in der Welt der Bücher und Zahlen gut zurechtfanden.
    Hätte es nicht ein Problem geben: Schule war langweilig geworden. Jeden Tag schreiben, rechnen, lesen, Hausaufgaben machen …
    Die große, weite Welt der Schule mit ihren unendlichen Möglichkeiten war zusammengeschrumpft zu einem zähen Alltag, und das zuvor spielerische Lernen war irgendwie zu einer verdammt mühseligen Arbeit geworden. Besonders deutlich wurde mir das, als Frau Neumann eines Tages in die Klasse kam, sich an ihr Lehrerpult setzte, ohne etwas zu sagen, einen Stapel Hefte aus der Parallelklasse auf den Tisch legte und anfing, diese durchzuschauen. Mit meiner heutigen Schulerfahrung hätte ich sie einfach machen lassen, aber ein Rest kindlicher Neugier ließ mich damals fragen: «Frau Neumann? Sie haben uns noch gar keine Aufgabe gegeben.» Dass sie uns noch nicht mal begrüßt hatte, war mir schon gar nicht mehr aufgefallen. Frau Neumann schaute verblüfft hoch: «Was? Ach so … Ja, macht halt irgendwas aus dem Arbeitsheft, wie immer.» Irgendwas wie immer. Nun, auch Frau Neumann war wohl von ihrer anfänglichen Begeisterung über die frische, formbare Schülerschar desillusioniert in den üblichen Trott verfallen.
    Zeit, dass für Abwechslung gesorgt wurde: Es stand die Entscheidung an, auf welche weiterführende Schule wir gehen sollten. Wir erhielten alle vier eine Gymnasialempfehlung und beschlossen relativ schnell, auf dasselbe Gymnasium zu gehen.
    Bei der erneuten «Einschulung» in die höhere Schule standen wir wieder an der Straßenecke, an der wir auch schon vier Jahre zuvor gewartet hatten, um gemeinsam zur Grundschule zu gehen. Diesmal aber nicht mit sperrigen Schulranzen, sondern mit modernen Rucksäcken. Orhan hatte außerdem eine Schultüte dabei. «Orhan, die brauchst du diesmal nicht!», informierten wir ihn. Erschrocken rannte er nach Hause, schrie seine Mutter an, ob sie denn noch ganz dicht wäre, ihn so lächerlich zu machen, und stimmte dann seinem Vater zu, der entsetzt feststellte: «Nie machen sie gleich die Deutschen. Schultüte ja, Schultüte nein. Können nix entscheiden!» Er unterbrach sich selbst und blickte auf die Uhr: «Jetzt beeilt euch, ist schon spät.»
    Völlig gehetzt und nun ohne Schultüte eilten wir vier die Straße hinunter. Das
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