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Wenn das Schlachten vorbei ist

Wenn das Schlachten vorbei ist

Titel: Wenn das Schlachten vorbei ist
Autoren: T. C. Boyle
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zufällig eine Schlange zu Gesicht kriege, ist das meine Sache, richtig?« Er dreht sich um, legt die freie Hand auf das Treppengeländer und verschwindet in der Kajüte.
    Dave ist gelassen. Er war den ganzen Tag, die ganze Woche gelassen, aber das hier geht eindeutig zu weit, denn Wilson kann ein solches Arschloch sein, und dabei ist er doch bloß ein Zimmermann und ein Schlaumeier, der meint, er darf jedem auf den Geist gehen, wann immer er will, und bevor er sich besinnen kann, ist Dave aufgesprungen, läuft polternd die Treppe hinunter und brüllt: »Nein, Irrtum, du Sack – es ist mein Boot und meine Sache!«
    Die Tokachi-maru , ein 12 000-BRT-Frachter mit Heimathafen Nagoya, mit einer Ladung aus Textilien und Maschinenteilen aus chinesischer Produktion unterwegs nach Long Beach, war eines der ältesten Schiffe unter japanischer Flagge. Sie war in den späten Sechzigern gebaut worden und seither, abgesehen von kurzen Liegezeiten und Aufenthalten im Trockendock, ununterbrochen auf See gewesen. Von der Wasserlinie bis zur sechs Decks darüberliegenden Brücke war sie mit Rost überzogen, und obwohl man Rumpf und Aufbauten an vielen Stellen mit Anstrichen versehen hatte (hauptsächlich in Elefantengrau und schmutzanziehendem Weiß), sah sie aus wie ein Seelenverkäufer und war der Schandfleck eines jeden Hafens. Aber sie brachte ihren Eignern Geld, und diese waren entschlossen, sie so lange fahren zu lassen, bis die Grenze der Wirtschaftlichkeit erreicht war – oder besser noch, bis sie in einem vom Himmel gesandten Taifun irgendwo in der Südsee auf den Grund des Meeres sank, voll versichert natürlich und ohne Verluste an Menschenleben. In Anbetracht der zurückgelegten Seemeilen und der vielen Jahre auf See hatte es an Bord erstaunlich wenige Unfälle gegeben (nur die üblichen Knochenbrüche, Herzinfarkte und Alkoholvergiftungen, und einmal, in den späten achtziger Jahren, war vor der Küste von Georgia ein Mann über Bord gegangen und leider nie gefunden worden), und trotz ihrer Hässlichkeit und der Probleme, die zugerostete Schotten und eine Kombüse bereiteten, die nur über den beim Bau des Schiffs installierten vierflammigen Gasherd und drei uralte Mikrowellenherde verfügte, waren ihre Instrumente auf dem neuesten Stand, und Kapitän Noboru Nishisawa, Neffe des ersten Kapitäns der Tokachi-maru , gehörte zu den umsichtigsten und zuverlässigsten der ganzen Flotte.
    An diesem Tag, einem Samstag im Juni, stieß das Schiff, als es von Norden in den Santa-Barbara-Kanal einfuhr, auf dichten Nebel, und Kapitän Nishisawa erschien persönlich auf der Brücke und ordnete als Vorsichtsmaßnahme an, auf halbe Fahrt zu gehen und in regelmäßigen Abständen das Nebelhorn zu betätigen. Im übrigen verließ er sich auf die Instrumente, seine Erfahrung und darauf, dass die schiere Masse des Schiffs einen gewissen Schutz darstellte. Sein Kurs verlief genau in der Mitte des Tiefwasserwegs Süd, und das Radar zeigte keine anderen Schiffe vor ihm an. Im Notfall würde die Tokachi-maru zwei Seemeilen und dreieinhalb Minuten brauchen, um anzuhalten, ihr Wendekreis betrug etwa eine Seemeile. Und von hier oben, sechs Stockwerke über der Wasseroberfläche, konnte man ein kleines Boot selbst unter den besten Wetterbedingungen nur äußerst schwer ausmachen.
    So war es eben. Darum gab es ja Schiffahrtsstraßen und Trennzonen. War das System perfekt? Natürlich nicht. Die Trennzone funktionierte wie der Grünstreifen einer Schnellstraße, nur dass es auf dem Wasser natürlich keine Markierungen gab, keine Leitplanken, Palmen oder Oleanderbüsche, die die nach Norden und Süden führenden Fahrbahnen trennten. Kam es zu Unfällen? Natürlich. Doch meist sah, spürte oder hörte die Besatzung eines Frachtschiffs überhaupt nichts, wenn ein kleines Boot das Pech hatte, ihm in die Quere zu kommen. Man muss es sich so vorstellen: Eine dicke Frau, noch dicker als Marta aus dem Cactus Café, ein Monument aus Fleisch, Knochen und fließenden Säften, stampft nach einer Doppelschicht auf schmerzenden Füßen zu ihrem Wagen und hat nicht die leiseste Ahnung, welche Katastrophen sie dabei in der Welt der Ameisen, Käfer und Würmer anrichtet.
    Wilson ist fix, das muss man ihm lassen. Als Dave die Treppe herunterpoltert, hat Wilson bereits die Klappe hinter dem Tisch geöffnet und, bevor Dave sie wieder zuknallen kann, einen der Säcke herausgezerrt. Die zweite Weinflasche, Anises Chardonnay, ist halb leer, und die Frauen essen jetzt
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