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Wenn das Schlachten vorbei ist

Wenn das Schlachten vorbei ist

Titel: Wenn das Schlachten vorbei ist
Autoren: T. C. Boyle
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diese Art von Karten auch lieber.« Wilson beugt sich vor und zieht aus dem Gestell zu seiner Linken eine laminierte Seekarte. »Du weißt schon: alte Schule. Die kann man wenigstens anfassen. Aber was ist das gelbe Ding hier in der Mitte?«
    »Was, brauchst du jetzt eine Brille?«
    Wilson kneift die Augen zusammen und hält die Karte auf Armeslänge von sich. »Nur wenn ich arbeite«, sagt er. »Aber ich kann’s trotzdem lesen: ›Wetterboje Santa-Barbara-Kanal Ost‹. Aber das wusstest du ja schon.«
    »Wir haben sie gerade passiert und sind ungefähr auf halbem Weg zur Insel. Dann müssen wir noch um die Westseite herum und dann nach Coches Prietos.«
    »Dann sind wir also im« – er liest es ab – »›Tiefwasserweg Nord‹?«
    »Nein. Siehst du hier, auf dem GPS? Wir haben ihn gerade verlassen. Wir sind jetzt in der Zone zwischen den beiden Tiefwasserwegen – der eine führt nach Norden, der andere nach Süden.«
    »In der Trennzone.«
    »Genau. Und wenn wir in etwa fünf Minuten den Tiefwasserweg Süd überquert haben, ist alles in Butter. Das heißt, bis wir zur Westspitze der Insel kommen und in den Santa-Cruz-Kanal einbiegen, wo die von dir erwähnten Felsen sind. Also kein Bier, keinen Cocktail, nichts, jedenfalls nicht für mich. Nicht bevor wir geankert haben und ich mich entspannen kann, denn du weißt so gut wie ich, dass man in diesen Gewässern keinen Mist bauen darf. Besonders unter Bedingungen wie diesen.«
    »Schon verstanden. Aber dein Kopilot kann sich ins Koma saufen – ist das nicht sogar vorgeschrieben? Es sei denn, du hast einen Herzanfall. Du wirst doch keinen Herzanfall kriegen, oder, Dave?«
    Das Rauschen der Bugwelle, hin und wieder ein Kichern von unten. Keine Vögel, nicht mal Sturmtaucher. Irgendwo über ihnen das angestrengte Halblicht der Sonne, die versucht durchzudringen. Und die Ruhe. Die Ruhe, die man nicht für Geld kaufen kann. Oder vielleicht doch, denn ist das nicht genau das, was sie tun?
    »Weißt du, was ich dir noch gar nicht erzählt hab? Anise und Alicia übrigens auch nicht?«
    Grinsend, vorgebeugt, schiebt Wilson die Mütze mit einer raschen, nervösen Fingerbewegung aus der Stirn und wartet auf die Fortsetzung. Er mag Partys, er mag Überraschungen. »Was?« sagt er, und sein Grinsen wird noch breiter.
    »Wir setzen heute nicht bloß Kaninchen aus. Du erinnerst dich an den Typ aus Texas, den dein Freund oder Onkel oder so kennt? Den Schlangenmann?«
    »Hör auf!«
    »Ja, wir haben, einzeln in Säcke verpackt, zehn Klapperschlangen in erstklassigem Zustand an Bord. Und das ist erst der Anfang – der Typ hat gesagt, er kann uns so viele besorgen, wie wir wollen.«
    »Kann ich sie sehen?«
    »Erst wenn wir da sind.«
    »Ach, komm schon, wovor hast du Angst? Vor der Fortsetzung von Snakes on a Plane ? Ich kann sie mir doch auch jetzt ansehen. Mann, ich hab schon als kleiner Junge Schlangen gehalten. Ich hatte sechs Terrarien mit einer Gummiboa, einer Zornnatter, ein paar Bullennattern, Königsnattern und Klapperschlangen, ja, auch Klapperschlangen. Wusstest du, dass bei denen in den San-Gabriel-Bergen bei L. A. gerade ein ganz eigenartiger evolutionärer Prozess stattfindet? Und zwar dadurch, dass die Schlangen mit den kleinsten Schwanzrasseln sich stärker vermehren als die großen, lauten, alten, aggressiven cascabeles , weil die alle getötet werden.«
    »Nein, wusste ich nicht. Will ich auch nicht bezweifeln. Denen hier jedenfalls wird’s prima gehen.« Und das ist seine Vision – er sieht es direkt vor sich –, die jetzt Wirklichkeit werden wird, denn er bringt die Schlangen an einen Ort, wo ihnen nichts und niemand etwas tun wird und sie wachsen und gedeihen können, bis sie die Schwanzklappern verlieren, und wenn das nicht Naturschutz ist, dann weiß er nicht, was Naturschutz sonst sein soll.
    »Komm schon. Nur eine. Ich will mir bloß eine einzige ansehen.« Wilsons Augen – das ist ihm noch nie aufgefallen – beben leicht. Es ist eine ganz leise Bewegung, wie die der lautlosen Schlangen in der nachgiebigen Enge der Säcke.
    »Ich hab nein gesagt. Kannst du mich hören? Spreche ich laut genug für dich?«
    Wilson strafft die Schultern, und er zieht die Mundwinkel nach unten. Er streicht sich über den Spitzbart, als würde er nachdenken, steht auf, steckt die Seekarte wieder in das Gestell und nimmt die leere Bierflasche, alles in einer einzigen Bewegung. »Na gut, scheiß drauf. Aber ich gehe jetzt runter und hole mir noch ein Bier, und wenn ich dabei
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