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Weisses Gold

Weisses Gold

Titel: Weisses Gold
Autoren: Giles Milton
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übrig gelassen. Doch die größten Schäden richtete das Erdbeben von 1755 an: Der große Palast erzitterte unter den Erdstößen und stürzte ächzend in sich zusammen. Was in Jahrzehnten errichtet wordenwar, wurde in wenigen Minuten zerstört. Die Decken aus Zedernholz wurden aus den Sparren gerissen, und der Stuck stürzte herab. Ganze Abschnitte des Palastkomplexes fielen in sich zusammen und begruben Möbel und Antiquitäten unter sich. Der Hof floh in Panik und kehrte nie zurück. Die zerbrochene Schale des Palastes, von dem nur ein Wirrwarr aus Kammern ohne Dächer übrig geblieben war, verwandelte sich rasch in die Heimstatt der Armen von Meknes.
    Ich betrete die Stadt durch das Bab Mansur, das schönste der prachtvollen Tore von Meknes. Es gibt den Blick auf eine Welt der Riesen frei, in der sich die Befestigungsmauern über die Wipfel der Palmen erheben und die Höfe so weit wie der Himmel sind. Durch einen zweiten Torbogen erreicht man einen dritten, hinter dem sich eine Reihe von Durchgängen erstreckt. Durch diese an ein Labyrinth erinnernden Gassen, über die Telefonkabel und Stromleitungen wie Girlanden hängen, dringe ich tief in das Herz des Palastkomplexes vor. Noch heute leben Menschen, ja ganze Familien, in den Ruinen des Dar Kbira. In die Bollwerke wurden Türöffnungen geschlagen, und aus der Stampferde wurden Löcher für Fenster gebrochen. Aus den früheren Kammern sind moderne Schlafzimmer geworden, die Höfe sind mit Marmorschutt übersät.
    Ich zwänge mich durch einen Spalt in der Mauer und stehe vor einem weiteren Gewirr von Ruinen. Eine umgestürzte Säule aus Porphyr liegt in einem Berg aus Abfall, so als wäre sie nachlässig mit dem Hausmüll entsorgt worden. Der steinerne Wirbel einer Laubverzierung verrät ihre römische Herkunft; offenbar wurde sie aus der nahe gelegenen Ruinenstadt Volubilis herbeigeschafft.
    Ich frage mich, ob dieses verwaiste Viertel einst der verbotene Serail war, dessen verspiegelte Decke auch von solchen Säulen getragen wurde. Die arabischen Chronisten sprechen von kristallklar rinnendem Wasser und klimpernden Brunnen, von Marmorbecken, in denen sich farbenprächtige Fische tummelten. Ich halte für einen Augenblick in dieser dachlosen Kammer inne und hebe eine Handvoll kühler Erde auf. Der pulvrige Sand rinnt durch meine Finger, doch ein kostbarer Rückstand bleibt: Bruchstücke von Mosaikfliesen in verschiedensten Formen, darunter Sterne, Rechtecke, Quadrate und Diamanten.
    Wenn man jenem Mönch Glauben schenken darf, sind diese winzigen Splitter Zeugnisse eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Menschheit. Jedes handgefertigte Mosaik in diesem monumentalenPalast, jede zerbrochene Säule und Befestigungsmauer wurde von einer Armee christlicher Sklaven errichtet. Diese elenden Gefangenen, die von schwarzen Sklaventreibern mit Peitschen drangsaliert und in schmutzigen Behausungen zusammengepfercht wurden, verwirklichten das Bauvorhaben des Sultans und errichteten den größten Prunkbau in der bekannten Welt. Es wird berichtet, dass Mulai Ismails männliche Sklaven 15 Stunden täglich und oft auch in der Nacht Schwerarbeit leisten mussten. Ein noch schlimmeres Schicksal hatten die Frauen zu erdulden: Sie wurden im Harem gezwungen, zum Islam überzutreten, damit sie die sexuellen Gelüste des Sultans befriedigen konnten.
    Marokko war nicht das einzige Land in Nordafrika, in dem weiße Sklaven gehalten wurden. Auch in den Barbareskenstaaten Algier, Tunis und Tripolis wurde ein reger Handel mit europäischen Gefangenen betrieben. Tausende Sklaven wurden von den Kaufinteressenten auf Herz und Nieren geprüft, bevor sie an den Meistbietenden verkauft wurden. Diese erniedrigten Männer, Frauen und Kinder stammten aus allen Winkeln Europas: aus Island und Griechenland, Schweden und Spanien. Viele von ihnen waren von den berüchtigten Barbareskenkorsaren auf See gekapert und viele andere bei Überfällen an den europäischen Küsten aus ihren Dörfern verschleppt worden.
    Nach jenem Besuch in Meknes vergingen noch fast sechs Jahre, bevor ich mich auf die Suche nach schriftlichen Aufzeichnungen der im Maghreb festgehaltenen Sklaven machte. Ursprünglich hatte ich angenommen, dass diese Dokumente – sofern es sie je gegeben hatte – wohl schon vor langer Zeit verloren gegangen waren. Aber im Lauf der Zeit stellte ich fest, dass zahlreiche Briefe und Tagebücher erhalten geblieben sind. Ich stieß auf trübsinnige Schilderungen der zermürbenden
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