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Weisses Gold

Weisses Gold

Titel: Weisses Gold
Autoren: Giles Milton
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schikanieren. »[Sie] schrieen uns üble Beleidigungen zu … und versetzten uns viele harte Schläge.«
    Der Sultan, dem ihre Furcht vollkommen gleichgültig war, wirkte sichtlich erfreut darüber, dass diese hart gesottenen Seemänner in guter Verfassung waren. Sie würden viele Jahre brauchbar sein. Als er den kleinen Thomas Pellow sah, blieb er einen Augenblick stehen. An dem beherzten Auftreten dieses Jungen war etwas, das die Neugierde des Sultans weckte. An seine Gardisten gewandt, murmelte er einige Worte, worauf der Junge gepackt und von den anderen Gefangenen getrennt wurde.
    Als seine Kameraden von einem schwarzen Sklaventreiber weggeführt wurden, betete Thomas Pellow insgeheim, dass dieser Albtraum bald ein Ende haben möge. Doch die Gefangenschaft dieses Jungen, der nun einer der vergessenen weißen Sklaven in Nordafrika war, sollte 23 Jahre dauern.

    Ich reiste im Frühjahr 1992 nach Meknes. Im Tal des Bufekran blühte zu dieser Zeit die wilde Minze, und der kleine Fluss führte reichlich eiskaltes Wasser. Mein Reisegefährte kam aus einer anderen Welt: Es war ein Mönch, der im 18. Jahrhundert einen farbenfrohen Bericht über Meknes auf dem Höhepunkt seines Glanzes geschrieben hatte. In seinem Buch im Duodezformat – passenderweise in Maroquinleder gebunden – schilderte er eine Stadt von beispielloser Pracht. Doch dieses Werk enthielt auch eine überaus dunkle und böse Geschichte.
    Als der Ordensmann Meknes besuchte, war der dortige Königspalast das größte Bauwerk in der nördlichen Hemisphäre. Die mit Zinnen gekrönten Befestigungsmauern, die sich um diesen gewaltigen Palastkomplex zogen, wanden sich kilometerlang über Hügel und Auen und umschlossen Obstpflanzungen und Lustgärten. Ihre Bollwerke thronten hoch über dem Tal. Diese grandiose Festung war gebaut, um auch der mächtigsten Armee standzuhalten. Jedes Tor wurde von einer Abteilung der schwarzen Garde des Sultans bewacht.
    Wegen seiner Ausmaße erhielt der Palast einfach den Namen Dar Kbira – »Der Große«. Tatsächlich war Dar Kbira nur Teil eines gewaltigen Komplexes. Weitere 50 Paläste, die alle miteinander verbunden waren, beherbergten die 2000 Konkubinen und Höflinge des Sultans. Dazu kamen Moscheen und Minarette, Höfe und Pavillons. Die Stallungenbedeckten die Fläche einer kleinen Stadt, in den Baracken waren über 10 000 Fußsoldaten untergebracht. Im weitläufigen Dar el Machsen, einer weiteren riesigen Palaststadt, schmiedeten die Wesire und Eunuchen ihre Ränke. Die immergrünen, hängenden Gärten sollten Nebukadnezars sagenhafte Anlage in Babylon in den Schatten stellen.
    Der europäische Mönch hatte nie etwas Vergleichbares gesehen und berichtete nach seiner Heimkehr von Bronzetüren mit phantastischen Arabesken und rot schimmernden Säulen aus Porphyr. Die Bodenmosaike in den Höfen waren geometrisch vollkommen und verwirrten den Betrachter mit ihrem komplexen Wechselspiel von Kobaltschwarz und Weiß. Da waren Fliesen aus Jaspis und Carrara-Marmor, kostbare Damastteppiche und reich verzierte Schabracken für die Pferde. Besonders ungewöhnlich war der maurische Stuck, der zu einer feinen Honigwabe gemeißelt war und von den Kuppeln herabzutropfen schien wie schneeweiße Stalaktite.
    Jeder Flecken Mauer, jede Nische und jeder Stützbogen war mit exquisiten Verzierungen bedeckt. Auch die Glasarbeiten waren von außergewöhnlicher Schönheit. Azurblaue, zinnoberrote und türkisgrüne Scheiben brachen das grelle afrikanische Sonnenlicht. In den frühen Abendstunden warfen sie farbige Sechsecke auf die Marmormosaike.
    Die Türen trugen das Emblem der Sonne, weshalb sich die Besucher fragten, ob sich der Sultan mit seinem Zeitgenossen Ludwig XIV. – dem Sonnenkönig – messen wollte. Tatsächlich hoffte der größenwahnsinnige Sultan etwas noch viel Großartigeres zu erbauen als das kurz zuvor fertig gestellte Schloss von Versailles. Er träumte von einem Palastkomplex, dessen Gebäude sich aneinandergereiht von Meknes bis Marrakesch erstrecken sollten, also über eine Entfernung von fast 500 Kilometern.
    Die erbarmungslose Sommersonne und die winterlichen Regenfälle haben dem aus Stampferde (einer Mischung aus Kalk und Erde) erbauten Palastkomplex in den vergangenen drei Jahrhunderten übel mitgespielt. Der vom Atlas herab pfeifende Wind hat die rosafarbenen Mauern abgeschliffen und an manchen Stellen auf pulvrige Haufen reduziert. Die Bögen sind eingestürzt, und von den Türmen hat die Erosion nur Stümpfe
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