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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander
Autoren: Janet Fitch
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aufzusteigen? Der Phönix muss verbrennen … Wie konnte ich es wagen? Ich hatte so lange gebraucht, um mich endlich aus ihrem Schatten zu lösen, allein zu atmen. Eher würde ich in Europa mit seinem Heizstrahlergeruch nach versengtem Haar bleiben.
    Ich lag in Pauls Armen und dachte daran, wie wir letzten Sommer nach Dänemark gefahren waren, um Klaus Anders zu suchen. Wir hatten ihn in Kopenhagen gefunden. Er hauste mit seinen Kindern in einer schäbigen Wohnung, es roch nach Terpentin und saurer Milch. Seine Frau war bei der Arbeit. Als wir um drei Uhr nachmittags bei ihm vorbeikamen, trug er einen blauen, mit Farbe beklecksten Seersucker-Bademantel. Zwei Kleinkinder, meine Halbschwester und mein Halbbruder aus seiner dritten oder vierten Ehe, saßen auf der Couch und sahen fern. Das Mädchen hatte Erdbeermarmelade im Haar, das jüngere Kind brauchte dringend frische Windeln, und ich erkannte, dass die Kette des Unheils sich ebenso horizontal wie hinauf oder hinunter fortsetzen konnte.
    Er hatte gemalt, ein biomorph abstraktes Bild, das aussah wie ein alter Schuh mit Haaren. Er bot uns Carlsberg an und erkundigte sich nach meiner Mutter. Ich trank und überließ es Paul, den Großteil der Unterhaltung zu bestreiten. Mein Vater. Seine stattliche Stirn, die dänische Nase, genau wie meine. Seine Stimme mit dem singenden Akzent, humorvoll, selbst wenn sie Bedauern äußerte. Ein Mann, der nie etwas ernst nahm, am wenigsten sich selbst. Er war erfreut darüber, dass ich Künstlerin war, nicht überrascht, dass meine Mutter im Gefängnis saß, und es tat ihm Leid, dass wir uns nie getroffen hatten. Er wollte die verlorene Zeit wieder gutmachen, bot uns an, bei ihm zu bleiben; wir könnten auf dem Sofa schlafen, ich könnte mit den Kindern aushelfen. Er war einundsechzig Jahre alt und so gewöhnlich.
    Ich war mir vorgekommen wie meine Mutter, als ich im Wohnzimmer saß und ihn, seine klebrigen Kinder und den ständig laufenden Fernseher musterte. Das alte Futonsofa, den zerkratzten Sofatisch aus Teakholz mit Wasserrändern. Die Bilder an den Wänden: Farbkrusten wie Gehirnwindungen und Darmkrebs. Wir aßen Käse und Brot, das große Glas Erdbeermarmelade. Ich gab ihm die Adresse des Comic-Buchladens und sagte, dass wir in Verbindung bleiben würden. Es war das erste Mal, dass ich schnell weitergehen, als Erste das Zimmer verlassen wollte.
    Hinterher gingen wir in eine Studentenkneipe in der Nähe der Universität, und ich betrank mich gründlich, wurde rührselig und übergab mich auf einem Parkweg. Paul bugsierte mich in den letzten Zug zurück nach Berlin.
    Jetzt nahm ich im Bett Pauls Hand, seine rechte in meine linke, verschränkte meine Finger mit seinen. Meine Hände, lang und kalt wie der Winter, meine Identität in die Windungen der Fingerkuppen eingraviert; Pauls Hände waren dunkel vom Graphitstaub und rochen nach Drum und Kebab. Unsere Handflächen waren gleich groß, aber seine Finger waren ein paar Zentimeter länger. Seine schönen Hände. Falls wir je Kinder bekommen, werden sie hoffentlich seine Hände haben, dachte ich immer.
    »Also, was war beim Drucker los?«, fragte ich.
    »Er will Geld«, sagte Paul. »Stell dir vor.«
    Ich drehte unsere Hände, sodass wir sie von beiden Seiten betrachten konnten. Seine Finger berührten fast meine Handgelenke. Ich strich über die Sehnen seiner Hand und dachte daran, dass ich in weniger als einem Tag wieder in den Staaten sein könnte. Ich könnte wie meine Mutter sein, wie Klaus. Es war doch mein Erbe, die Leben wie Schlangenhaut abzustreifen, auf jeder neuen Seite eine neue Wahrheit, ein Leben in moralischer Amnesie – oder etwa nicht?
    Aber eine Schande. Lieber würde ich verhungern. Ich wusste, wie das ging, es war gar nicht so schwer.
    Ich schaute mich in unserer Wohnung um: Die Wände, die vom Regen einen Wasserschaden hatten, unsere wenigen Möbel, eine lädierte Pressspankommode, die wir am Straßenrand gefunden hatten, den staubigen Samtvorhang, hinter dem sich unsere winzige Küche verbarg. Pauls Zeichentisch, seine Papiere und Stifte. Und die Koffer, die an der Wand aufgereiht waren und den Rest des Bodens bedeckten. Unser Leben. Der Phönix muss verbrennen , hatte meine Mutter gesagt. Ich versuchte mir die Flammen vorzustellen, aber es war zu kalt.
    »Vielleicht verkaufe ich das Museum«, sagte ich.
    Paul ließ seine Finger über die hellen Bissnarben auf meiner Hand gleiten. »Ich dachte, du hättest Oskar gesagt, dass du das nicht willst.«
    Ich
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