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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander
Autoren: Janet Fitch
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europäischen Kunststudenten geworden waren, hatten wir in jeder Stadt schnell Freunde gefunden. Sie reichten uns von WG zu WG , von einem besetzten Haus zum nächsten wie Fackeln in einem Staffellauf.
    Berlin gefiel mir. Die Stadt und ich verstanden einander. Es gefiel mir, dass man den zerbombten Koloss der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche als Mahnmal des Krieges stehen lassen hatte. Hier hatte niemand etwas vergessen. In Berlin musste man sich mit der Vergangenheit auseinander setzen, man musste auf und in den Ruinen bauen. Es war nicht wie in Amerika, wo wir die Erde sauberkratzten und dachten, wir könnten immer wieder ganz von vorn anfangen. Wir hatten noch nicht gelernt, dass es so etwas wie eine leere Leinwand nicht gab.
    Ich hatte mich der Plastik zugewandt, eine Folge meiner Zeit bei Rena Grushenka. Ich hatte eine zwanghafte Vorliebe für Abfälle entwickelt, für Flohmärkte, für Schätze an der Bordsteinkante und für das Feilschen in sechs verschiedenen Sprachen. Im Laufe der Zeit fand dieser Trödel Eingang in meine Kunst, zusammen mit Bruchstücken der deutschen Sprache, der Huldigung des Echten und vierundzwanzig verschiedenen Arten von Tierkot. Unsere Freunde, die Kunststudenten, hatten an der Hochschule der Künste einen Professor, Oskar Schein, dem meine Arbeit gefiel. Er schmuggelte mich als eine Art Gasthörerin in die Kurse und machte sich für meine Aufnahme als reguläre Studentin stark, damit ich auf einen Studienabschluss hinarbeiten konnte, doch auf eine perverse Art und Weise sagte mir mein augenblicklicher Status zu. Ich war immer noch ein Pflegekind. Die Hochschule der Künste war das deutsche Pendant zu Cal Arts; Studenten mit ausgefallenen Haarschnitten, die hässliche Kunst fabrizierten, doch ich fand einen Kontext, wie meine Mutter sich ausgedrückt hätte. Meine Mitstudenten wussten über Paul und mich Bescheid; wir waren die talentierten jungen Wilden, die von meinem Trinkgeld als Kellnerin und dem Straßenverkauf unserer selbstgebastelten Anhänger für Rückspiegel lebten. Sie wären gern an unserer Stelle gewesen . Wir sind die freien Vögel , konnte ich Rena immer noch sagen hören.
    In diesem Jahr hatte ich es auf Koffer abgesehen. Ich suchte den Flohmarkt in der Nähe des Tiergartens ab und feilschte um altmodische Koffer – nach der Wiedervereinigung wurden Tausende zum Verkauf angeboten. Lederkoffer mit gelben Zelluloidgriffen. Handliche Reisekoffer und Hutschachteln. In der ehemaligen DDR hatte niemand sie weggeworfen, da es nichts gegeben hatte, um sie zu ersetzen. Jetzt wurden sie billig verkauft, weil die Ostdeutschen die neuesten Bordcases erstanden, aufrechte Hartschalenkoffer mit Rädern. Auf dem Flohmarkt an der Straße des 17. Juni kannten mich die Händler alle. »Das Mädchen mit den Handkoffern«, nannten sie mich.
    In den Koffern errichtete ich Altäre. Verborgene, tragbare Museen. Entwurzelung ist der Zustand der Moderne, wie Oskar Schein zu sagen pflegte. Er wollte mir unbedingt einen Koffer abkaufen, doch ich konnte mich nicht von ihnen trennen, obwohl Paul und ich ziemlich offenkundig blank waren. Ich brauchte sie. Stattdessen fertigte ich Oskar zu seinem Geburtstag einen eigenen an, mit Louise Brooks als Lulu und Reichsmarknoten aus der Inflationszeit. Modelleisenbahnschienen durchzogen ihn wie Adern, und auf dem Boden hatte ich in einen Sumpf aus schwarzer Kunststoffgießmasse einen riesigen Stiefel gepresst und den Abdruck mit durchsichtigem grüngefärbtem Acrylharz gefüllt. Durch das Acryl konnte man die untergegangenen Porträts von Goethe, Schiller und Rilke sehen.
    Den ganzen Winter über saß ich auf dem Boden in einer Ecke der Wohnung mit meinem Klebstoff und Fimo, mit den Gießharzen und Lösungsmitteln, Farben und Garnen und Tüten voll zusammengetragener Materialien vom Flohmarkt; dabei trug ich meinen Mantel und an den Händen wollene Fingerlinge. Ich konnte mich nie entscheiden, ob ich bei geöffnetem Fenster arbeiten sollte, um die Dämpfe besser abziehen zu lassen, oder es lieber schließen sollte, um warm zu bleiben. Es kam ganz darauf an. Manchmal war mein Sinn für die Zukunft stärker, manchmal überwog die Einstellung, dass nur die Vergangenheit existierte.
    Ich schaffte mir mein ganz persönliches Museum. Alle waren sie da: Claire und Olivia, meine Mutter und Starr, Yvonne und Niki und Rena, Amelia Ramos, Marvel. Das Musée de Astrid Magnussen. Ich hatte alle meine Sachen bei Rena zurücklassen müssen, als ich nach New York ging,
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