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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander
Autoren: Janet Fitch
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auf den Waagschalen der Nacht gewogen wurde.
    Später lag ich vollständig angezogen unter dem Federbett, nicht, um zu schlafen, sondern nur, um warm zu bleiben. Der Radiator summte und schickte den üblichen Geruch nach verbranntem Haar durchs Zimmer. Die Fensterscheiben waren von außen vereist, und im Zimmer konnte ich meinen Atem sehen. Ich hörte mir eine Kassette an, eine Band namens Magenta; unsere Freunde fanden es stark, dass wir die Sängerin persönlich kannten: Niki Colette. Sie spielten im nächsten Monat in Frankfurt, wir hatten uns schon Karten und einen Schlafplatz organisiert. Um die Weihnachtszeit hörte ich immer noch von Yvonne; sie lebte jetzt in Huntington Beach mit einem Ex-Marine namens Herbert, von dem sie einen Sohn hatte, Herbert junior.
    Ich wartete darauf, dass Paul nach Hause kam, ich hatte Hunger. Er sollte etwas zu essen mitbringen, wenn er von seinem Termin bei einem Drucker zurückkam. Er versuchte jemanden zu finden, der seinen neuen Comic billig druckte und dafür an den verkauften Exemplaren beteiligt wurde. Sein letzter deutscher Verleger war im Herbst an einer Überdosis gestorben, und wir mussten wieder von vorn anfangen. Doch immerhin hatte er bereits Vorbestellungen für zweihundert Exemplare, gar nicht schlecht.
    Paul kam gegen neun, zog die Stiefel aus und schlüpfte zu mir unter die Bettdecke. Er hatte eine fettige Papiertüte mit Döner Kebab vom Türken mitgebracht. Mir knurrte der Magen. Paul ließ eine Zeitung auf mich herabfallen. »Rate mal, wer drin steht!«, sagte er.
    Es war die International Herald Tribune vom nächsten Tag, die noch nach frischer Druckerschwärze roch. Ich sah das Titelblatt an. Kroatien, OPEC , eine Bombendrohung in der Scala. Ich faltete die Zeitung auseinander, und da war sie, auf Seite drei: INHAFTIERTE DICHTERIN NACH NEUN JAHREN FREIGESPROCHEN . Sie lächelte ihr halbes Lächeln und winkte wie eine Königin, die aus dem Exil heimkehrte, glücklich, aber immer noch misstrauisch gegenüber dem Volk. Sie hatte den Prozess ohne meine Hilfe hinter sich gebracht. Sie war frei.
    Paul aß seinen Döner und ließ Salatstückchen auf die Tüte fallen, während ich schnell den Artikel las, stärker erschüttert, als ich gedacht hatte. Die Strategie der Verteidigung hatte darauf abgestellt, dass Barry Selbstmord begangen und es wie Mord hatte aussehen lassen. Ich war entsetzt, dass es funktioniert hatte. Meine Mutter wurde zitiert, wie dankbar sie sei, dass der Gerechtigkeit Genüge getan worden sei; sie freue sich darauf, endlich ein Bad zu nehmen, sie danke den Geschworenen aus tiefstem Herzen. Sie sagte, sie habe schon Angebote erhalten, an der Universität zu lehren, ihre Autobiographie zu veröffentlichen, einen Eiscreme-Millionär zu heiraten und für den Playboy zu posieren, und sie werde sie alle annehmen.
    Paul bot mir einen Falafel an, doch ich schüttelte den Kopf. Plötzlich hatte ich keinen Hunger mehr. »Heb’s für später auf«, sagte er und ließ die Papiertüte neben das Bett fallen. Seine lebhaften braunen Augen stellten alle notwendigen Fragen. Er brauchte gar nichts zu sagen.
    Ich legte den Kopf an seine Schulter und starrte auf die Quadrate aus bläulichem Fernsehlicht, die sich zwischen den Eisblumen auf unserem Fenster von den Fenstern auf der anderen Hofseite spiegelten. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie sich jetzt fühlte. In Los Angeles war Mittagszeit. Ein heller, sonniger Februartag, wie es auf dem Foto aussah. Ich stellte sie mir in einem Hotelzimmer vor, eine kleine Gefälligkeit von Susan D. Valeris, irgendeine Luxussuite voller Blumen von wohlmeinenden Gratulanten, wo sie in frischen Laken aufwachte. Sie würde ihr Bad in einer extrabreiten Wanne einnehmen und mit Blick auf die Winterrosen ein Gedicht schreiben.
    Dann würde sie vielleicht ein paar Interviews geben oder sich ein weißes Cabrio für eine Spritztour an den Strand mieten, wo sie einen jungen Mann mit klaren Augen und Sand in den Haaren aufgabelte und mit ihm schlief, bis er, benommen von so viel Schönheit, weinte. Was würde man sonst tun, wenn man von einem Mord freigesprochen wurde?
    Es wäre wahrscheinlich zu viel des Guten, wenn ich mir vorstellte, dass sie ihre Freude mit einem Moment des Schmerzes abschwächte, einem Moment der Einsicht darüber, was ihr Triumph gekostet hatte. Das konnte ich wohl nicht von ihr erwarten. Doch ich hatte ihre Reue gesehen, und die hatte gar nichts mit Barry oder irgendjemandem sonst zu tun gehabt; sie war ein
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