Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander
Autoren: Janet Fitch
Vom Netzwerk:
Geschenk gewesen, das sie mir angeboten hatte, obwohl sie seinen Preis noch gar nicht einschätzen konnte. Er hätte so schwer wiegend wie Trauer sein können, endgültig wie eine Gruft. Egal wie sehr sie mir geschadet hatte oder wie fehlerhaft sie war, wie schrecklich sie geirrt hatte, meine Mutter liebte mich fraglos.
    Ich stellte mir vor, wie sie dem Gericht ohne die Bauernformation meiner Lügen gegenübergestanden hatte. Nackt und ungeschützt hatte die Dame das Endspiel ganz allein gemeistert.
    Paul rollte sich eine Drum; die Tabakfäden sahen aus wie Haare, als er sie aus der Packung nahm. Er streifte die Tabakkrümel an den Enden ab, strich ein Streichholz an der Kiste an, die uns als Beistelltisch diente, und zündete die Zigarette an. »Willst du sie anrufen gehen?« Wir konnten uns kein Telefon leisten, Oskar Schein ließ uns seines benutzen.
    »Zu kalt.«
    Er rauchte, der Aschenbecher ruhte auf seiner Brust. Ich griff nach der Zigarette und zog daran, gab sie ihm wieder zurück. Wir waren gemeinsam einen so langen Weg gekommen, Paul und ich. Von dem Apartment am St. Marks Place über das besetzte Haus in Südlondon zu einem schlecht isolierten Hausboot in Amsterdam – und jetzt in die Senefelderstraße. Ich wünschte, wir würden jemanden in Italien oder Griechenland kennen. Seit ich Los Angeles verlassen hatte, war mir nicht mehr richtig warm gewesen.
    »Möchtest du je wieder nach Hause zurückkehren?«, fragte ich Paul.
    Er strich mir einen Aschekrümel aus dem Gesicht. »Wir haben das Jahrhundert des entwurzelten Menschen«, sagte er. »Du kannst nie nach Hause zurückkehren.«
    Er brauchte mir nicht zu sagen, dass er Angst davor hatte, dass ich zurückgehen würde. Mich in eine amerikanische College-Studentin mit regelmäßigen Mensamahlzeiten, Feldhockey und Kursen in englischer Textkomposition verwandeln würde und ihn mit dem Los des Pflegekindes allein ließ. So lagen die Dinge. Auf der einen Seite waren Frau Acker und die Miete, mein Husten, Pauls Druckauflage. Auf der anderen ein warmer, sonniger Ort, ein College-Abschluss, vernünftiges Essen und jemand, der sich um mich kümmern würde.
    Ich hatte ihm nie erzählt, dass ich mich manchmal alt fühlte. Unsere Unterkunft war deprimierend. Vorher hätte ich mir gar nicht erlauben können, darüber nachzudenken, doch jetzt, wo meine Mutter frei war, musste ich es wohl. Und zu allem Überfluss hatte Oskar Schein mich auch noch gefragt, ob er mich allein treffen, mich zum Essen einladen könne; er wolle mit mir über eine Ausstellung in einer Galerie reden. Ich hatte ihn hingehalten, doch ich wusste nicht, wie lange ich ihm widerstehen konnte. Ich fand ihn attraktiv, ein bäriger Mann mit kurz gestutztem Silberbart. Wieder wollte ich mich für den Vater hinlegen. Wenn Paul nicht gewesen wäre, hätte ich es schon vor Monaten getan. Doch Paul war mehr als nur mein Freund. Er war ich.
    Und nun rief meine Mutter mich. Ich musste nicht telefonieren, ich konnte sie auch so hören. Mein Blut flüsterte ihren Namen.
    Ich starrte ihr Foto an, auf dem sie in der kalifornischen Sonne winkte. In diesem Augenblick war sie frei. Sie fuhr durch die Gegend, bereit, wieder ganz neu anzufangen, darin im Grunde ganz Amerikanerin. Ich dachte an mein Leben, das, in Koffer verfrachtet, an der Wand lehnte, an die verschiedenen Formen, die ich angenommen hatte, die Ichs, die ich gewesen war. Als Nächstes könnte ich Ingrid Magnussens Tochter in Stanford oder Smith sein und die gedämpften, atemlosen Fragen ihrer neuen Kinder beantworten. Sie ist deine Mutter? Wie ist sie wirklich? Ich könnte es. Ich wusste, wie ich meine tragische Vergangenheit gut verkaufen konnte, meine Narben geschickt enthüllen konnte, meinen Pflegekindstatus; diese Fertigkeit hatte ich bei Joan Peeler perfektioniert. Die Leute nahmen sich meiner an, machten mich zu ihrem Projekt, zu ihrem Hätschelkind. Sie setzten sich als meine Fürsprecher ein, und ich ließ sie. Schließlich war ich nicht einen so weiten Weg gegangen, damit man mich wieder auf dem Grund irgendeines Flusses bei den Autowracks vergaß.
    Wieder die Tochter meiner Mutter zu sein. Ich spielte mit der Vorstellung wie ein Kind mit einer Decke, ließ sie zwischen meinen Fingern hin und her gleiten. Mich wieder im Wellengang ihrer Musik zu verlieren. Der Gedanke war verführerischer als jeder Mann. War es wirklich zu spät für eine Kindheit, zu spät, in den Herd zurückzukriechen, mich im Feuer aufzulösen, ohne Erinnerungsvermögen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher