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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander
Autoren: Janet Fitch
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Zierkanten aus rotem Lackleder. Er hatte mich fünfzig DM gekostet, doch er war mit changierender, wie Holz gemaserte Moiréseide gefüttert, ausgekleidet wie ein Sarg. In den Deckel hatte ich Stücke aus weißlackiertem Schallplattenvinyl geklebt, die den Flügeln von Schmetterlingen ähneln sollten. Jedes der winzigen Schubfächer im Innern des Koffers barg ein Geheimnis. Einen vielgliedrigen Miniaturfisch aus Metall, eine Schublade voller Tabletten. Eine Perlenkette. Einen Farnwedel. Ein Rosmarinzweiglein. Ein Foto von Audrey Hepburn in »Zwei auf gleichem Weg«. Und in einem Schubfach siebenundzwanzig Namen für Tränen. Herzenstau. Honig des Leidens. Trauriges Wasser. Tears. Eau de douleur. Los rios del corazón . Diesen Koffer wollte Oscar Schein unbedingt kaufen.
    Alle meine Mütter. Wie die weisen Frauen bei einer Märchentaufe hatten sie mir ihre Gaben überreicht. Sie waren jetzt mein. Olivias Großzügigkeit, ihr Wissen über Männer. Claires Zärtlichkeit und Treue. Ohne Marvel hätte ich wohl nie die Geheimnisse der amerikanischen Familie ergründen können. Wann hätte ich je gelernt zu lachen, wenn Niki nicht gewesen wäre? Und Yvonne, mi hermosa , du hast mir die wahre Mutter gegeben, die Blutsmutter, die nicht hinter Gittern ist, sondern irgendwo in einem selbst. Rena hatte mir meinen Stolz genommen, mir aber auch etwas Wichtiges zurückgegeben: Sie hatte mir beigebracht, zu retten, was zu retten ist, und aus dem Wrack zu bergen, was man wieder verwerten und verkaufen kann.
    Ich trug sie alle in mir, geformt von jeder Hand, durch die ich einmal gegangen war, nachlässig oder liebevoll, es spielte keine Rolle. Amelia Ramos, diese Streifenstinktierhexe, hatte mir beigebracht, für mich selbst einzustehen, auf den Busch zu klopfen, bis ich bekam, was ich brauchte. Starr hatte versucht mich umzubringen, aber mir auch die ersten Schuhe mit hohen Absätzen gekauft und mir die Möglichkeit Gottes nahe gebracht. Wollte ich eine von ihnen missen?
    Und in einem blauen Koffer mit weißem Griff der erste und letzte Saal der Astrid-Kunsthalle. Gefüttert mit weißer Wildseide, die Ecken rot gefärbt, parfümiert mit Veilchenduft.
    In der Dämmerung eines grauen Nachmittags saß ich auf dem Boden, auf dem abgetretenen Teppich, den Generationen von Kunststudenten mit Farbe bekleckst hatten. Abenddämmerung, das war die Zeit meiner Mutter, obwohl es im Berliner Winter schon gegen vier dunkel wird, kein immerwährendes westliches Zwielicht, keine Brandung auf gelbem Sand. Ich öffnete den Deckel.
    Ihr Veilchenduft machte mich immer traurig. Die Phiole mit dem gefärbten Wasser hatte genau die Farbe des Pools am Hollywood Boulevard. Ich saß vor dem Altar meiner Mutter und setzte eine Reihe Zeichnungen auf durchsichtigen Plastikfolien hintereinander, sah zu, wie die zerstückelten Linien sich zusammenfanden, bis sie ihr Bild im Profil formten. Briefe, mit Stacheldraht zusammengebunden, nisteten auf dem Boden des Koffers, zusammen mit einem aufgefächerten Tarotblatt, zuoberst die Königin der Stäbe. Eine Reihe einzelner Glasscherben hing vom Deckel herunter. Ich strich mit den Fingern darüber, brachte sie zum Klingen und stellte mir den Wind im Eukalyptusbaum in einer heißen Sommernacht vor.
    Wir schrieben uns ein paarmal im Monat und nutzten den Comic-Buchladen in der Nähe der Universität als Postfach. Manchmal ließ sie mir durch ihre Anwältin etwas Geld zukommen, sie schickte es über Hanna Grün in Köln; Geld, das sie für ihre Gedichte bekommen oder – wahrscheinlicher – einem Bewunderer abgeschwatzt hatte.
    Ich schrieb ihr, dass ich von ihren Vorbereitungen auf den Prozess nichts hören wolle, doch sie prahlte in ihren Briefen mit Angeboten, die auf sie warteten – Amherst, Stanford, Smith. Ließ die Mohrrübe eines grünen College-Campus vor mir hin-und herbaumeln. Ich stellte mir vor, wie ich als Professorentochter mit dem Fahrrad zu meinen Seminaren fuhr. Zu guter Letzt könnte ich doch noch meinen Kamelhaarmantel tragen, mir mit einer anderen Studentin ein Zimmer im Wohnheim teilen, an der Uni Volleyball spielen – alles im Voraus bezahlt. Wie sicher es sein würde, geborgen, alles für mich entschieden. Ich könnte wieder Kind sein, ich könnte noch mal von vorne anfangen. Wollte ich bestimmt nicht nach Hause zurückkehren?
    Ich streckte die Hand aus und berührte einen Dorn des Stacheldrahts, ließ das Windspiel aus Glasplättchen erklingen. Die Schönheit und der Wahnsinn. Das war es doch, was
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