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Weil du mich siehst

Weil du mich siehst

Titel: Weil du mich siehst
Autoren: Manuela Inusa
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Freundin. Sie waren schon zusammen zur Schule gegangen, hatten den Kontakt aber etwas schleifen lassen. Dann, als Kathi von dem Unfall hörte, kam sie Paula im Krankenhaus besuchen, jede Woche. Und das hatte sie bis jetzt beibehalten.
     
    Paula hörte sich das neueste Hörbuch von Nicholas Sparks an. Sie mochte diese Geschichten über wahre Liebe, sie hatte sie ebenfalls erleben dürfen. Nur dass ihre Liebe nicht dazu bestimmt gewesen war, ewig zu halten. Bis dass der Tod uns scheidet, traf bei ihr schon eher zu. Wie im Märchen. Nur war es kein Märchen, es war die Hölle.
     
    Paula weinte. Sie weinte mit den Liebenden. Sie weinte um ihren Verlust. Sie weinte wegen der enormen Ungerechtigkeit. Sie weinte um sich selbst. Sie weinte, weil sie Max und Louisa nie wiedersehen würde, selbst wenn sie noch hätte sehen können.
     
    Manchmal fragte sie sich, ob es ein Leben nach dem Tod gab. Würde sie die beiden eines Tages in einer anderen Welt wiedersehen? Würden sie wieder glücklich vereint sein? Würde sie ihr Augenlicht wiederbekommen? Es war fast 800 Tage her, dass sie es verloren hatte.
     
    Es gab Tage, da konnte sie sich an alles erinnern, an die Äste im Wind, an das Gelb der Sonne, an das Rot ihres Küchentisches, an das Grün ihres Lieblingspullovers, an das Weiß der Badezimmerkacheln, an das Blau von Max` Augen, an das Blond von Damians Haaren. Sie konnte sein Lachen sehen und wie er die Arme hochriss, wenn er sich freute. Sie konnte das Bild mit einem Boot auf dem Meer sehen, das er ihr eine Woche vor dem Unfall gemalt hatte. Sie wusste nicht einmal, wo es jetzt war.
     
    Louisa hatte sie nur kurz sehen dürfen. Vier Tage lang. Das war alles, was ihr mit ihr gegönnt war. Vier kurze Tage eines viel zu kurzen Lebens, eines vier Tage langen Lebens.
     
    Es gab Tage, da vergaß Paula alles. Da erinnerte sie sich weder an das Grün des Grases noch an das Blau des Himmels. Da wusste sie nicht mehr, was Farben waren. Sie wusste nicht mehr, wie ihr Mann gelacht hatte oder ihre Tochter geschlafen. Sie hätte alles dafür gegeben, sich ein Foto ansehen zu können und die Erinnerungen zurückzuholen.
     

Freitage
     
     
    Freitag. Es war an einem Freitag passiert. Doch an jenen Freitag wollte sie nicht denken, also konzentrierte sich Paula allein auf den heutigen Freitag.
     
    Wieder Gruppentherapie. Sie hatte all ihren Mut zusammengesammelt und sich fest vorgenommen, es heute endlich zu wagen. All die Menschen hier waren so tapfer und so mutig, und auch wenn sie alle – außer dem Neuen, Finn – schon viel länger, manche von ihnen Monate, andere Jahre, dabei waren, fühlte sie sich langsam aber sicher wie ein Angsthase. Wer, wenn nicht diese Menschen hier, würde sie je verstehen?
     
    Als sie jetzt jedoch vor ihnen saß, war es wie immer. Die Worte hatten sich in ihrem Hals festgesetzt und einen riesigen Klumpen gebildet, den wahrscheinlich sogar eine Stange Dynamit nicht hätte sprengen können.
     
    Wer aber heute den Mund aufmachte, im übertragenen Sinne, war Finn. Paula konnte es nicht fassen. Es war doch erst seine zweite Gruppensitzung, wie war es möglich, dass er sich bereits jetzt öffnete, sich ihnen mitteilte? Sie traute ihm nicht. Irgendetwas konnte doch mit ihm nicht stimmen.
     
    Finn war gekommen, trotz all der Ausreden, die er sich im Laufe der Woche hatte einfallen lassen. Sein Vater hatte ihn wieder hergebracht, ihn vor dem Gebäude abgesetzt. Dann war er schnell davongefahren. Finn konnte sich ausmalen, was er jetzt tat, wie er in einer Kneipe saß und seinen Schmerz mit Bier und Rum betäubte.
     
    Er wollte nicht hier sein, hatte nicht kommen wollen. Und doch war da etwas in ihm, und wenn es auch noch so klein war, dass sich vielleicht sogar gefreut hatte auf diesen Freitag – auch wenn er es niemals zugeben würde, denn Freude wollte er nicht mehr empfinden.
     
    Kurz vor der Sitzung hatte er mit Johannes gesprochen . Der hatte ihm gesagt, wie sehr er sich freue, ihn wiederzusehen. Und wie aus dem Nichts hatte er dem Therapeuten gesagt , dass er heute seine Geschichte erzählen wolle.
     
    Er wollte es für niemanden tun, außer für sie – für diese blinde Frau, die ihm die ganze Woche nicht aus dem Kopf gegangen war.
     
    War es, weil sie so schön war, so verletzlich und so gebrochen? Oder war es, weil sie der einzige Mensch auf Erden zu sein schien, der ihn wirklich sehen wollte? Kennen wollte? Er war sich nicht einmal sicher, ob es so war, doch er hatte da dieses Gefühl,
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