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Weil du mich siehst

Weil du mich siehst

Titel: Weil du mich siehst
Autoren: Manuela Inusa
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jedes Mal, wenn er an sie dachte, überkam es ihn. Und heute Abend würde er sich ihr öffnen. Was danach passieren würde, wusste er nicht. Vielleicht würde er ihr auch vollkommen egal sein.
     
    Johannes übersetzte: »Es ist vier Jahre her, ich war sechzehn. Es war ein Freitag. Mein Vater hatte mir meinen Bruder anvertraut, hatte gesagt, ich solle ein Auge auf ihn haben. Barne, mein Bruder, war neun Jahre alt. Wir gingen schwimmen an den Baggersee. Ich hatte ihn die ganze Zeit im Auge, genau wie mein Vater es mir befohlen hatte. Barne war ein Nachzügler, der Liebling meines Vaters, ich wusste, ich würde Ärger mit ihm bekommen, sollte irgendetwas passieren. Und dann ist es passiert.«
     
    Johannes machte eine Pause, woraus Paula schloss, dass Finn aufgehört hatte mit der Zeichensprache. Es war ganz still im Raum geworden.
     
    Nach einer Weile fuhr Johannes fort: »Ich konnte ihn nicht mehr sehen. Erst vermutete ich nichts Schlimmes, dachte, er wäre zum Kiosk gegangen oder hätte einen Freund getroffen. Doch ich fand ihn nicht, so sehr ich auch suchte. Ich ging ins Wasser und schwamm, soweit ich konnte. Ich rief seinen Namen. Doch es war sinnlos. Wir haben noch den ganzen Abend gesucht. Am nächsten Morgen fand ihn der Suchtrupp, er war ans Ufer gespült worden und hatte sich in ein paar Büschen verfangen.«
     
    »Das ist schrecklich, Finn, es tut mir sehr leid«, das waren jetzt Johannes eigene Worte.
     
    »Ja, mein Beileid«, sagte Connie.
     
    »Oh Gott«, sagte Melanie, an ihren eigenen toten Sohn im Wasser erinnert.
     
    Tote Kinder. Davon könnte Paula auch eine Geschichte erzählen.
     
    »Finn, möchtest du fortfahren?«, fragte Johannes Finn und übersetze wieder.
 
    »Mein Vater und ich rannten zu der Stelle hin, an der Barne gefunden wurde. Mein Vater fiel auf die Knie und beugte sich weinend über ihn. Ich … ich konnte nur auf meinen toten Bruder starren und wusste, es war meine Schuld. Seitdem hat mich meine Stimme verlassen. Ich habe nie wieder ein Wort herausbekommen.«
     
    »Das ist ein Schockzustand, Finn«, sagte Connie. »Wissen die Ärzte denn keine Lösung?«
     
    »Sie sagen, es sei allein meine Entscheidung«, teilte Finn mit. »Ich könnte sprechen, wenn ich nur wollte. Aber sie haben unrecht. Ich kann nicht mehr sprechen, nie wieder.«
     
    »Vielleicht ist es eine Art Schutzmechanismus?«, vermutete Johannes. »Mir ist aufgefallen, dass du euren Vater immer nur meinen Vater nennst.«
     
    »Barne hatte einen anderen Vater als ich. Zu ihm war er ein anderer. Ihn hat er geliebt.«
     
    »Du denkst, dein Vater liebt dich nicht?«
     
    »Als Bare starb, starb die Welt meines Vaters mit ihm. Er macht mich für alles verantwortlich, er hasst mich von ganzem Herzen.«
     
    »Das glaube ich nicht«, sagte Connie. »Kein Vater hasst seinen Sohn. Er weiß wahrscheinlich nur seine Liebe in all dem Kummer nicht zu zeigen.«
     
    »So wie ich aufgehört habe zu sprechen, hat mein Vater aufgehört, mich zu beachten. Seit vier Jahren leben wir nebeneinanderher. Nun hat er es nicht mehr ausgehalten und hat mich bei dieser Therapie angemeldet. Ich bin nicht freiwillig hier.«
     
    »Wir alle sind freiwillig hier«, stellte Johannes sofort richtig. »Du kannst jederzeit aufstehen und gehen.«
     
    »Damit er mich noch mehr hasst? Das bringt doch alles nichts.« Finn schüttelte verbittert den Kopf.
     
    Stille.
     
    »Weißt du«, sagte Connie. »Ich kann verstehen, dass du dir Vorwürfe machst, aber … Finn, dein Bruder ist jetzt an einem besseren Ort. Der liebe Gott hat ihn zu sich geholt.«
     
    »Und warum hat er das getan?«, fragte Paula, bevor sie wusste, was sie tat. »Warum holt er ein unschuldiges Kind zu sich, das noch sein ganzes Leben vor sich hat?«
     
    Connie, die links neben Paula saß, legte ihr eine Hand auf die Schulter. Paula verkrampfte sich innerlich, sie mochte keine Berührungen. »Weil einige von uns Menschen, egal welchen Alters, so wundervoll und besonders sind, dass ihr Platz nur im Himmel sein kann.«
     
    »Und deshalb werden sie von uns gerissen? Das ist doch nicht fair!«, sagte Paula mit zitternder Stimme. Sie hörte, wie Melanie anfing zu weinen.
     
    Finn konnte den Schmerz in Paulas Gesicht sehen, in jedem ihrer Glieder. Was war ihr nur zugestoßen, dass sie so schmerzerfüllt war?
     
    »Ich weiß, es ist schwer zu verstehen«, sagte Connie. »Ich vermisse meine Angela auch ganz schrecklich, und lange Zeit war ich wütend ...«
     
    »Oh ja«, unterbrach
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